3.3. Begriff der Öffentlichkeit
In T 834/09 stellte die Kammer fest, dass derjenige, der in einer öffentlichen Bibliothek dafür zuständig ist, eingehende Dokumente entgegenzunehmen und mit einem Datumsstempel zu versehen, zweifellos ein Mitglied der Öffentlichkeit ist, da dieser Bibliotheksmitarbeiter hinsichtlich der von ihm betreuten Publikationen und ihres Inhalts in keiner Weise zu Vertraulichkeit verpflichtet ist; schließlich besteht seine Aufgabe als Mitarbeiter einer öffentlichen Bibliothek gerade darin, Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Kammer stellte weiter fest, dass es bei einer schriftlichen Offenbarung irrelevant ist, ob der Mitarbeiter ein Fachmann ist oder nicht, weil es nicht notwendig ist, den Inhalt der Offenbarung zu verstehen, um ihn beliebig zu reproduzieren und weiterzugeben. Die Kammer urteilte daher, dass ein Dokument dadurch, dass ein Mitarbeiter einer öffentlichen Bibliothek es entgegennimmt und mit einem Datumsstempel versieht, für die Öffentlichkeit zugänglich wird.
Im Fall T 314/99 war unbestritten, dass die betreffende Diplomarbeit vor dem Prioritätstag in das Archiv der Bibliothek des Fachbereichs Chemie der Universität Hamburg aufgenommen worden war. Die Kammer vertrat jedoch den Standpunkt, dass die Diplomarbeit nicht schon durch ihre Aufnahme in das Archiv öffentlich zugänglich geworden sei, da dies nicht bedeutet habe, dass sie zu diesem Zeitpunkt katalogisiert oder anderweitig für die Kenntnisnahme durch die Öffentlichkeit vorbereitet gewesen sei, und die Öffentlichkeit ohne entsprechende Informationsmöglichkeit nicht von ihrer Existenz erfahren würde.
In T 1137/97 stellte die Kammer fest, dass die Beweiskraft und Verlässlichkeit eines Eingangsdatums, das auf der in einer Bibliothek ausliegenden Ausgabe einer Zeitschrift aufgedruckt ist, als Beleg für den Tag, an dem diese Zeitschrift der Öffentlichkeit tatsächlich zugänglich gemacht wurde, von der in der Bibliothek verfolgten Routine abhängt. In Anbetracht des weiteren Beweismaterials ließ die Kammer ein handschriftlich auf der Titelseite angebrachtes Datum nicht als Beleg gelten.
In T 729/91 handelte es sich bei einem wesentlichen Schriftstück um eine Ausgabe einer Zeitschrift für das Hotel- und Gaststättengewerbe. Nach der Beweislage in dieser Sache ging ein Exemplar dieser Zeitschrift vor dem Prioritätstag des Streitpatents in der betreffenden Bibliothek ein. Der Bibliothekar gab an, dass Veröffentlichungen "der Öffentlichkeit in der Regel ab ihrem Eingangstag zugänglich sind". Im vorliegenden Fall war es nach Auffassung der Kammer wahrscheinlich, dass die Veröffentlichung von ihrem Eingangstag an zugänglich war.
In T 1050/12 war umstritten, ob Abstracts der Präsentationen für eine künftige Konferenz, die in einer Beilage zu einem regulären Band einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht wurden, öffentlich zugänglich waren. Es gab unterstützendes Beweismaterial in Form von Exemplaren, die einen Zeitstempel für Eingang und/oder Katalogisierung trugen, und die Kammer hatte keine Veranlassung, an den Erklärungen der Bibliothekare zu ihren üblichen Arbeitsabläufen zu zweifeln. Umgekehrt enthielt die Akte keinerlei Beweise, um die Behauptungen des Beschwerdegegners (Patentinhabers) zu stützen, wonach die Zeitschriftenbeilage nicht frei verteilt werden sollte. Die Kammer stimmte der Auffassung nicht zu, dass die Schlussfolgerungen von T 834/09 der früheren Rechtsprechung widersprächen, und lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Befassung der Großen Beschwerdekammer ab. Die Kammer befand, dass unabhängig davon, ob der Bibliothekar als Mitglied der Öffentlichkeit zu sehen ist (was die Frage in T 834/09 war), überzeugende Beweise dafür vorlagen, dass die fraglichen Unterlagen vor dem Prioritätstag des vorliegenden Patents öffentlich zugänglich gemacht wurden.