5.12. Kriterien für die Berücksichtigung geänderter Ansprüche
In der frühen Rechtsprechung der Beschwerdekammern zeigte sich, dass die Kammern geänderte Anträge oder Hilfsanträge im Beschwerdeverfahren zuließen, sofern es sich bei diesen Anträgen um ernstzunehmende Versuche zur Ausräumung erhobener Einwände handelte oder die verspätete Einreichung begründet war und die Zulassung nicht seitens der Beschwerdekammer oder des anderen am Verfahren Beteiligten eine Prüfung nach sich zog, die den Verfahrensverlauf beträchtlich verzögert hätte. Insbesondere konnten jedoch kurz vor, oder in der mündlichen Verhandlung eingereichte Anträge unberücksichtigt bleiben, wenn sie nicht eindeutig gewährbar waren (T 95/83, ABl. 1985, 75; T 153/85, ABl. 1988, 1; T 406/86, ABl. 1989, 302; T 295/87, ABl. 1990, 470; T 381/87, ABl. 1990, 213; T 831/92).
Auch in weiteren Entscheidungen wiesen die Kammern darauf hin, dass die Ausübung des Ermessens eine Abwägung der Gesamtumstände des Falls voraussetzt. Dabei sind strengere Maßstäbe anzulegen, je später Anträge eingeführt werden (zum jetzt in der VOBK 2020 niedergelegten Konvergenzansatz, der auch auf diesem Grundsatz beruht, siehe insbesondere V.A.4.1.2 "Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens und Konvergenzansatz hinsichtlich Änderungen des Beteiligtenvorbringens"). Die neuen Ansprüche sollten sich in ihrem Gegenstand nicht stark von den bereits eingereichten Ansprüchen unterscheiden; insbesondere sollten sie keine Gegenstände enthalten, die bis dahin noch nicht beansprucht wurden. Die neuen Ansprüche sollten insofern eindeutig gewährbar sein, als sie zu keinen neuen Einwänden nach dem EPÜ führen und alle bestehenden Einwände ausräumen (T 1126/97, T 52/99, T 468/99, T 397/01, T 411/02, T 81/03, T 989/03, T 515/06).
Neue Anträge können aus Gründen der Verfahrensökonomie, selbst wenn sie erst in einem sehr späten Verfahrensstadium (z. B. bei der mündlichen Verhandlung) eingereicht werden, ausnahmsweise in das Verfahren zugelassen werden, sofern stichhaltige Gründe für die neu eingeführten Änderungen vorliegen, z. B. wenn sie in Erwiderung auf Einwände oder Anmerkungen eingereicht werden, die nicht Teil der angefochtenen Entscheidung sind, sondern schriftlich im Beschwerdeverfahren vorgebracht wurden. Die Änderungen sollten zudem den durch die angefochtene Entscheidung und die Beschwerdebegründung abgesteckten Diskussionsrahmen nicht ausdehnen (T 1126/97, T 52/99, T 468/99, T 397/01, T 846/04, T 1109/05).
In Bezug auf die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens hinsichtlich der Zulassung von Anträgen des beschwerdeführenden Patentinhabers, die nicht der Einspruchsabteilung vorgelegt wurden, gingen die Beschwerdekammern in der frühen Rechtsprechung und in der Rechtsprechung zur VOBK 2003 und zur VOBK 2007, als wesentlichem Kriterium der Frage nach, ob die geänderten Ansprüche dieser Anträge eindeutig gewährbar sind oder ob sie neue Einwände hervorrufen, die bisher nicht vorhanden waren, ob eine stichhaltige Begründung für deren verspätetes Einreichen vorliegt, um so taktischen Missbräuchen vorzubeugen, und ob sich die Kammer ohne unnötige Verzögerung damit befassen kann (T 153/85, ABl. 1988, 1; T 206/93; T 396/97; T 196/00; T 50/02; T 455/03; T 1333/05).
Nach ständiger Rechtsprechung hatte der beschwerdeführende Patentinhaber, der im Einspruchsverfahren unterlegen ist, das Recht, die zurückgewiesenen Anträge von der Beschwerdekammer erneut prüfen zu lassen oder im Beschwerdeverfahren rechtzeitig – insbesondere zusammen mit seiner Beschwerdebegründung oder seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung – neue Anträge einzureichen, jedoch unter der Voraussetzung, dass diese nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätten eingereicht werden müssen (s. dazu die Kapitel V.A.5.11.3 und V.A.5.11.4). Wollte der Patentinhaber, dass andere (weitere) noch später eingereichte Anträge geprüft werden, so lag es im Ermessen der Beschwerdekammer, diese zum Verfahren zuzulassen (s. auch Art. 13 (1) VOBK 2007); hierauf hatte der beschwerdeführende Patentinhaber keinen Rechtsanspruch (T 840/93, ABl. 1996, 335, T 427/99; T 50/02; T 455/03; T 651/03; T 240/04; T 339/06). Zur jetzigen Rechtslage nach der VOBK 2020, siehe Kapitel V.A.4. "Neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren – Rechtsprechung zur VOBK 2020".
Ergänzend zu den in Art. 13 (1) VOBK 2007 erwähnten Kriterien konnten nach ständiger Rechtsprechung auch folgende Kriterien ausschlaggebend sein: Es müssen stichhaltige Gründe für die Einreichung eines Antrags in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfahrens vorliegen, beispielsweise bei Änderungen, die durch Entwicklungen während des Verfahrens bedingt sind oder ob der Antrag die noch offenen Einwände ausräumt. Die Änderungen müssen prima facie eindeutig gewährbar sein. Die Einführung der Änderungen dürfen keinen Verfahrensmissbrauch darstellen. Die Änderungen dürfen den durch die Beschwerdebegründung und die Erwiderung des Beschwerdegegners abgesteckten Diskussionsrahmen nicht ausdehnen, sie dürfen keine neue Sachlage einbringen, zu der die anderen Beteiligten nicht Stellung nehme können. Es darf nicht zu einer übermäßigen Verzögerung des Verfahrens kommen. Der Zeitpunkt, zu dem Anträge mit geänderten Ansprüchen eingereicht werden, und die Anzahl eingereichter geänderter Anspruchssätze sind als Kriterien zu berücksichtigen. Neben dem Zeitpunkt der Antragsstellung ist auch von Bedeutung, ob die jeweiligen Anspruchsfassungen "konvergieren" oder "divergieren", also den Gegenstand des unabhängigen Anspruchs eines Hauptantrags in eine Richtung bzw. in Richtung eines Erfindungsgedankens zunehmend einschränkend weiterentwickeln oder etwa durch Aufnahme jeweils verschiedener Merkmale unterschiedliche Weiterentwicklungen verfolgen. Der Umfang der Änderung oder die Schwierigkeit oder Komplexität der vorzunehmenden Prüfung der Änderungen spielen eine Rolle. Auch die Erfolgsaussichten des Antrags können bedeutsam werden (s. dazu z. B. T 951/91, ABl. 1995, 202, T 81/03; T 942/05; T 1474/06; T 162/09; T 1634/09; T 376/10; T 683/10; T 484/11; T 409/12).