3.3. Rechtliches Gehör
In T 1110/03 (ABl. 2005, 302) befand die Kammer, dass in den Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ grundlegende und in den Vertragsstaaten allgemein anerkannte Verfahrensgrundsätze verankert sind, so das Recht der Erbringung geeigneter Beweise (insbesondere durch Vorlegung von Urkunden, Art. 117 (1) c) EPÜ) und der Anspruch auf rechtliches Gehör (T 1110/03), soweit diese nicht ausdrücklich vom Verfahren ausgeschlossen worden sind (T 2294/12).
Ein Organ des EPA ist grundsätzlich verpflichtet, sich von der Relevanz vorgelegter Beweismittel zu überzeugen, bevor es über deren Annahme oder Ablehnung entscheidet. Nur bei Vorliegen besonderer Umstände kann eine Prüfung auf Relevanz entbehrlich sein. Die Weigerung einer Einspruchsabteilung, rechtzeitig vorgelegte Beweismittel in Betracht zu ziehen, stellt eine Verletzung der grundlegenden Rechte einer Partei auf freie Wahl der Beweismittel und rechtliches Gehör dar (T 142/97, ABl. 2000, 358, Leitsatz). S. auch T 1231/11 (mit Verweis auf T 267/06, T 448/07, T 25/08), wonach im Zweifelsfall der angebotene Zeuge zu laden ist.
Nach Art. 113 (1) EPÜ müssen hingegen alle Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, zu allen rechtmäßig in das Verfahren eingeführten Beweismitteln Stellung zu nehmen. Es käme einem Verstoß gegen dieses Recht gleich, wenn einem Verfahrensbeteiligten – und zwar auch dem Verfahrensbeteiligten, der das betreffende Beweismittel ursprünglich eingeführt hat – einseitig und willkürlich gestattet würde, die Zurücknahme oder den Ausschluss dieses Beweismittels von der Berücksichtigung zu verlangen (T 95/07; vgl. T 760/89, ABl. 1994, 797, Rückgabe von Dokumenten).
Werden Behauptungen aus einer eidesstattlichen Versicherung bestritten, so muss dem Antrag eines Beteiligten auf Zeugenvernehmung in der Regel stattgegeben werden, bevor diese Behauptungen einer Entscheidung zuungunsten dessen zugrunde gelegt werden, der sie bestreitet. In T 474/04 (ABl. 2006, 129) hatte die Einspruchsabteilung das Streitpatent widerrufen, weil die Erfindung gegenüber der durch die eidesstattliche Erklärung nachgewiesenen Vorbenutzung nicht erfinderisch war. Da grundlegende Behauptungen in dieser Erklärung bestritten wurden, wurde der Verfasser als Zeuge angeboten. Obwohl der Beschwerdeführer (Pateninhaber) beharrlich dessen Vernehmung gefordert hatte, entschied die Einspruchsabteilung, den Zeugen nicht zu laden, obwohl er zur Verfügung stand. Die Kammer stellte fest, dass der Beschwerdeführer damit faktisch daran gehindert worden war, ein entscheidendes Beweismittel zu verwenden (in weiten Teilen zitiert in T 190/05 und jüngst in T 2659/17).
Die unterlassene Berücksichtigung von Beweismitteln stellt in der Regel insofern einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, als ein Beteiligter dadurch der in den Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ verankerten fundamentalen Rechte beraubt wird (T 1098/07). In T 135/96 (Nr. 3 der Gründe) wurde befunden, dass die Missachtung von Dokumenten (und Argumenten), die für die erfinderische Tätigkeit relevant sind, gegen das rechtliche Gehör des Beteiligten verstößt. In T 1110/03 (ABl. 2005, 302), wo indirekte Nachweise für eine Tatsachenbehauptung in Bezug auf die Neuheit unberücksichtigt blieben, kam die Kammer zu einer ähnlichen Feststellung. In T 1536/08 hatte die Einspruchsabteilung das unmissverständliche Angebot des Einsprechenden in der Einspruchsschrift, die gedruckten Originalversionen von entscheidenden Dokumenten aus dem Stand der Technik vorzulegen, völlig außer Acht gelassen. Die Nichtberücksichtigung seines Angebots stellte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar (s. auch Kapitel III.B.2.4.5 "Nichtberücksichtigung von Beweisen").