3.4.4 Defizitäre Begründung
In T 70/02 entschied die Kammer, dass die Prüfungsabteilung mit der lapidaren Feststellung "in Ihrem Schreiben wurden keine überzeugenden Argumente gefunden" in Erwiderung auf Schreiben, in denen der Anmelder erschöpfend auf die vorgebrachten Einwände eingegangen war, gegen R. 68 (2) EPÜ 1973 verstoßen habe. Zwar müssten in der Begründung nicht alle vorgebrachten Argumente eingehend behandelt werden, doch sei es ein allgemeiner Grundsatz des guten Glaubens und der Verfahrensgerechtigkeit, dass begründete Entscheidungen neben der logischen Kette von Tatsachen und Gründen, auf denen sie beruhen, zumindest einige Ausführungen zu entscheidenden Streitpunkten in der Argumentation enthalten sollten, soweit diese nicht bereits aus anderen Gründen hervorgehen, damit der Betroffene eine ungefähre Vorstellung davon erhält, warum seine Vorbringen nicht überzeugen, und er seine Beschwerdebegründung auf die entsprechenden Punkte stützen kann. In T 1291/13 ging die Entscheidung nicht auf wesentliche (und dem Anschein nach plausible) Gegenargumente des Anmelders ein. Die Kammer nahm auf T 70/02 Bezug und befand, dass die Entscheidung zumindest einige Ausführungen zu entscheidenden Streitpunkten enthalten muss, d. h. dass sie zumindest auf die wichtigsten Gegenargumente des Anmelders eingehen muss, um ausreichend begründet zu sein.
In T 1366/05 stellte die Kammer fest, dass eine bloße Zusammenfassung des Vorbringens einer Partei keine ausreichende Begründung sei.
In T 534/08 ging aus dem Wortlaut der angefochtenen schriftlichen Entscheidung nicht klar hervor, wie die Einspruchsabteilung zu ihrer Einschätzung gekommen war, ob sie das Vorbringen des Beschwerdegegners vollständig übernommen hatte oder ob sie eigene Einwände hatte. Das wurde ebenfalls von der Kammer für unzureichend erachtet.
In T 548/08 befand die Kammer, dass die Prüfungsabteilung Behauptungen aufgestellt und nicht begründet habe. Es werde keine logische Argumentation vorgebracht, warum beispielsweise die Ansprüche von der Beschreibung nicht gestützt würden; vielmehr würden Analysen und Argumente vom Anmelder und von der Kammer erwartet, die selbst herausfinden sollten, was die Einwände der Prüfungsabteilung genau bedeuten.
In T 405/12 stellte die Kammer fest, dass das Erfordernis der Entscheidungsbegründung nicht erfüllt ist, wenn aus der angefochtenen Entscheidung, ggf. unter Heranziehung anderer Bestandteile der Akte, nicht klar und unmissverständlich (d. h. nicht eindeutig) hervorgeht, auf der Grundlage welchen Antrags bzw. welcher Anträge (einschließlich der ggf. dazugehörigen Unterlagen wie Ansprüche, Beschreibungsseiten und Zeichnungen) diese Entscheidung ergangen ist.
In T 278/00 (ABl. 2003, 546) entschied die Kammer, dass im Falle einer unverständlichen und damit unzureichenden Entscheidungsbegründung die Kammer oder der Beschwerdeführer nicht Vermutungen anstellen muss, was damit gemeint sein könnte. Die Begründung einer angefochtenen Entscheidung ist in der vorliegenden Fassung zu betrachten. Die Kammer muss anhand der Begründung der angefochtenen Entscheidung beurteilen können, ob die Schlussfolgerung der ersten Instanz gerechtfertigt war oder nicht. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn für die Kammer nicht ersichtlich ist, welche der verschiedenen widersprüchlichen Feststellungen, die in der angefochtenen Entscheidung getroffen wurden und diese begründen, richtig oder falsch ist (s. auch T 316/05).
In T 655/13 befand die Kammer Folgendes: Damit die Prüfungsabteilung ihre auf eine maßgebliche Entgegenhaltung in einer Nichtamtssprache gestützte Begründung für die Kammer verständlich machen kann, muss sie die im Prüfungsverfahren hinzugezogene Übersetzung zumindest der relevanten Abschnitte des Dokuments (oder sogar des gesamten Dokuments, wenn dies für das allgemeine Verständnis erforderlich ist) in einer Amtssprache des EPA zur Verfügung stellen. Andernfalls ist die Kammer nicht in der Lage, die Entscheidungsbegründung zu überprüfen und in bestimmten Fällen zu beurteilen, ob die Entscheidung begründet ist oder nicht, was einen Verstoß gegen das Rechtserfordernis begründeter Entscheidungen nach R. 111 (2) EPÜ darstellt.
In T 1787/16 entschied die Kammer, dass für die Verwendung einer anderen als der Verfahrenssprache in der Entscheidung nur sehr eingeschränkt Raum besteht, nämlich nur soweit es die Beantwortung verfahrensrelevanter Tat-/Beweis- und Rechtsfragen gebietet. Gemäß Art. 125 EPÜ sind, soweit das EPÜ keine Vorschriften über das Verfahren enthält, die in den Vertragsstaaten der Europäischen Patentorganisation im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts heranzuziehen. Dies gilt insbesondere für den zugleich in Art. 6 (1) EMRK exemplarisch zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgrundsatz des fairen Verfahrens, der als allgemeine Richtschnur für die Verfahrensgestaltung dient. Dazu zählt auch das Gebot, die Entscheidung so abzufassen, dass sie von einer der Verfahrenssprache mächtigen Partei verstanden werden kann.
In T 1840/13 entschied die Kammer, dass die Einführung zusätzlicher Gründe in das Verfahren, zu denen der Anmelder nicht Stellung nehmen konnte, dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Zudem enthielten diese neuen Gründe nach Meinung der Kammer immer noch keine verständliche Begründung, sodass ein wesentlicher Verfahrensmangel vorlag.
In T 1929/12 befand die Kammer eine Entscheidung als grundlegend mangelhaft, die keinen Hinweis darauf enthielt, welche Merkmale oder Kombination aus Merkmalen in den streitgegenständlichen Ansprüchen über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Anmeldung hinausgingen (Art. 123 (2) EPÜ). Eine Zurückverweisung lehnte sie dennoch ab, da es wahrscheinlich sei, dass die Einspruchsabteilung erneut, wenn auch besser begründet, so entscheiden würde.
In T 1351/12 hatte die Prüfungsabteilung nicht erkannt, dass sich der Hauptantrag vom Hilfsantrag unterscheidet. Möglicherweise sollte die Begründung der Prüfungsabteilung ganz oder teilweise auch für den Hauptantrag gelten, doch ließ sich aus der Entscheidung nicht ableiten, ob dies der Fall war und welche Argumente ggf. entsprechend gelten würden.
In T 1029/16 schien die Entscheidungsbegründung der Prüfungsabteilung in Bezug auf den Hauptantrag aus der Ladung zur mündlichen Verhandlung kopiert worden zu sein. Die einzigen drei Absätze in Bezug auf den Hauptantrag, die nicht direkt kopiert worden waren, schienen eine Paraphrase dessen zu sein, was in der Ladung stand. In seinen Schriftsätzen hatte der Anmelder bereits auf die in der Ladung vorgebrachten Argumente geantwortet. Außerdem war klar, dass die Entscheidung sehr wenig mit dem in der mündlichen Verhandlung Besprochenen gemein hatte. Wie die Kammer befand, darf zwar in den Gründen einer Entscheidung in geeigneten Fällen im Interesse der Verfahrensökonomie auf vorangegangene Bescheide verwiesen werden, doch muss die Entscheidung erkennen lassen, welche Überlegungen für die Abteilung leitend waren, um zu der getroffenen Entscheidung zu kommen. Die Tatsache, dass vorläufige Stellungnahmen oder Argumente, die auf diese Anträge anwendbar sein können, in vorangegangenen Bescheiden oder in der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung geäußert wurden, können die Gründe in der Entscheidung selbst nicht ersetzen. Die Prüfungsabteilung hatte somit keine angemessene Begründung vorgelegt, was auch einen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte.
In T 899/17 befand die Kammer Folgendes: Die Gründe für das Scheitern von Hilfsanträgen, die in der Erörterung während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung zugunsten von aussichtsreicheren, nachrangigen Hilfsanträgen übergangen wurden und die der Patentinhaber ausdrücklich nicht zurückgenommen hatte, waren in der schriftlichen Entscheidung darzulegen.
- T 689/20
Catchword: Reasons 3