3.5. Weitere Kriterien zur Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik
In T 1764/09 stellte die Kammer fest, dass das Dokument D1 nichts weiter als eine spekulative Betrachtung darüber sei, was in Zukunft potenziell machbar sein könnte. In D1 werde keine konkrete Realisierung einer wirklich ausgereiften als Kontaktlinse oder Intraokularlinse geeigneten Linse beschrieben. Schon allein aus diesem Grund könne dieses Dokument, das von der Prüfungsabteilung als nächstliegender Stand der Technik herangezogen worden war, nicht objektiv als realistischer Ausgangspunkt oder als das vielversprechendste Sprungbrett zur beanspruchten Erfindung angesehen werden.
In T 184/10 stellte die Kammer fest, dass der Autor von Dokument (14) einen Ausblick auf künftige Trends gebe, die natürlich noch nicht durch Versuche bestätigt worden seien. Angesichts der Tatsache, dass dieser Ausblick auf den damals verfügbaren Daten fußte, würde der Fachmann ihn nicht als reine Spekulation abtun. Vielmehr würde er darin den ernsthaften Versuch einer Interpretation des bestehenden Stands der Technik sehen. Folglich sei der Inhalt von Dokument (14) als nächster Stand der Technik anzusehen.
In T 725/11 war die Erfindung auf eine pharmazeutische Kombinationsformulierung in Form einer Tablette mit zwei Wirkstoffen zur HIV-Therapie gerichtet. Die Kammer verneinte die erfinderische Tätigkeit gegenüber der Ankündigung einer klinischen Prüfung dieser Kombinationstherapie, die der Patentinhaber in einem Artikel einer Fachzeitschrift gemacht hatte. Der Patentinhaber brachte vor, dieser Fachartikel sei nicht der nächstliegende Stand der Technik, weil er weder eine Aussage zur Wirksamkeit noch technische Einzelheiten enthalte. Die Kammer lehnte diese Auffassung ab und befand, dass der Fachartikel einem konkreten Plan zur Entwicklung eines kommerziell verwertbaren Produkts mit einem geeigneten Wirkungsgrad gleichkomme. Zudem sei der Artikel eine öffentliche Absichtserklärung des CEO und des Executive Vice President für Forschung und Entwicklung des Patentinhabers, die vom Fachmann nicht als reine Spekulation abgetan würde.