5. Verbot der Doppelpatentierung
In G 4/19 (ABl. 2022, A24) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die Definition "desselben Gegenstands" oder "desselben Anmelders" im Zusammenhang der Doppelpatentierung nicht Gegenstand der Vorlage war.
In den Entscheidungen T 118/91 und T 80/98 wurde darauf geachtet, dass ein Unterschied zwischen dem Gegenstand der Teilanmeldung und dem der Stammanmeldung besteht, um eine etwaige Doppelpatentierung zu vermeiden. In T 118/91 wurde insbesondere ausgeführt, dass die Kammer keine Grundlage für die Behauptung finden könne, dass Merkmale, die zum Gegenstand der Teilanmeldung gehörten, nicht auch Gegenstand eines abhängigen Anspruchs der Stammanmeldung sein könnten. Die Kammer war mit den Richtlinien einverstanden, in denen es hieß, dass in der Regel in der einen Anmeldung deren eigener Gegenstand in Verbindung mit demjenigen Gegenstand der anderen Anmeldung beansprucht werden könne. Diese Ansicht führe nicht zu Doppelpatentierungen im üblichen Sinn. Im vorliegenden Fall war die Kammer davon überzeugt, dass die etwaige Gefahr einer Doppelpatentierung durch eine umfangreiche Einschränkung der Ansprüche der Teilanmeldung beseitigt worden sei.
In T 587/98 (ABl. 2000, 497) wies die Prüfungsabteilung, unter Verweis auf das in den Richtlinien enthaltene Verbot "kollidierender Ansprüche", eine als Teilanmeldung eingereichte Patentanmeldung mit der Begründung zurück, dass der Gegenstand der Teilanmeldung und der der Stammanmeldung Überlappungen aufwiesen und dass in dem Bereich der Überlappungen derselbe Gegenstand beansprucht wurde; als Rechtsgrundlage zog die Prüfungsabteilung Art. 125 EPÜ heran. Die Kammer stellte fest, dass Art. 125 EPÜ nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar sei, da dies das Fehlen von "Vorschriften über das Verfahren" im Übereinkommen voraussetze; die Regelungen zu Teilanmeldungen seien jedoch in sich geschlossen und vollständig. Außerdem wäre ein etwaiges Verbot "kollidierender" Ansprüche im weiteren Sinne, wie es in der strittigen Entscheidung von der Prüfungsabteilung vertreten worden sei, eine Angelegenheit des materiellen Rechts und nicht des Verfahrensrechts. Überdies enthalte das EPÜ keine ausdrückliche oder implizite Bestimmung, die das Bestehen eines unabhängigen Anspruchs in einer Teilanmeldung verbiete, dessen Zusammenhang mit einem unabhängigen Anspruch der Stammanmeldung (bzw. des Stammpatents, wenn ein solches bereits erteilt worden sei) darin bestehe, dass der Stammanspruch alle Merkmale des Teilanspruchs in Verbindung mit einem zusätzlichen Merkmal enthalte.
In T 307/03 (ABl. 2009, 422) stellte die Kammer fest, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots, d. h. das Recht des Erfinders (oder seines Rechtsnachfolgers) darauf, dass das EPA ihm für eine bestimmte in einem bestimmten Anspruch definierte Erfindung ein – einziges – Patent erteilt, aus Art. 60 EPÜ 1973 abgeleitet werden könne. Sei schon ein Patent erteilt worden, so sei der Rechtsanspruch auf ein Patent erschöpft (anders T 1423/07). Darüber hinaus könne ein Einwand wegen Doppelpatentierung auch dann erhoben werden, wenn der Gegenstand des erteilten Anspruchs im Gegenstand des später eingereichten Anspruchs enthalten sei, d. h. wenn der Anmelder den Gegenstand des bereits erteilten Patentanspruchs erneut patentieren lassen wolle und zusätzlich Patentschutz für einen anderen Gegenstand begehre, der im bereits erteilten Patent nicht beansprucht wird. Sei insbesondere der Gegenstand, der zweimal patentiert würde, sowohl im schon erteilten Patent als auch in der vorliegenden anhängigen Anmeldung die bevorzugte Ausführungsart der Erfindung, könne das Ausmaß der Doppelpatentierung nicht als geringfügig vernachlässigt werden. S. jedoch T 1391/07 und T 2402/10 (beide nachstehend zusammengefasst). In T 1252/16 stellte die Beschwerdekammer fest, dass sich entgegen der Auffassung in T 307/03 nach ständiger Rechtsprechung jegliches Verbot der Doppelpatentierung nur auf "denselben Gegenstand" erstreckt und nicht auf Ansprüche, die sich in ihrem Schutzumfang nur teilweise überschneiden (unter Verweis auf T 2461/10).
Die Kammer in T 1391/07 merkte an, dass die Praxis des "Doppelschutzverbots" auf Patente und Anmeldungen beschränkt ist, die dieselbe, durch den Gegenstand der entsprechenden Ansprüche definierte Erfindung betreffen, und damit auf Ansprüche, die begrifflich denselben Schutzumfang verleihen. Sie sah keine Grundlage für eine Ausweitung dieser Praxis auf Ansprüche, die nicht auf denselben Gegenstand gerichtet sind, sondern sich in ihrem Schutzumfang – wie im vorliegenden Fall – nur teilweise überschneiden, und zwar insofern, als nicht alle begrifflich unter den einen Anspruch fallenden Ausführungsarten auch unter den anderen fallen. Insbesondere kann das von der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 date: 2007-06-28 (ABl. 2008, 271) und G 1/06 (ABl. 2008, 307) verneinte legitime Interesse des Anmelders an der Erlangung von zwei Patenten für denselben Gegenstand nicht angeführt werden, wenn sich der Schutzumfang der betreffenden Ansprüche nur teilweise überschneidet, denn es gibt keinen offensichtlichen objektiven Grund dafür, dem Anmelder ein legitimes Interesse daran abzusprechen, einen Schutz zu erlangen, der sich von dem des bereits erteilten Stammpatents – trotz teilweiser Überschneidung – unterscheidet. Dementsprechend kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Tatsache allein, dass sich der begrifflich vom angefochtenen Anspruch verliehene Schutzumfang teilweise mit dem des erteilten Stammpatents überschneidet, der Erteilung eines Patents nicht entgegensteht (s. auch T 587/98, ABl. 2000, 497; T 877/06; T 1491/06; T 1780/12; T 2461/10; T 2563/11).
In T 2402/10 erhob der Beschwerdegegner einen Einwand wegen Doppelpatentierung, da Anspruch 1 im Einspruchsbeschwerdeverfahren so geändert worden sei, dass sich sein Umfang vollständig mit dem Schutzumfang der Ansprüche des auf die ursprüngliche Stammanmeldung erteilten Patents decke. Die Kammer erinnerte daran, dass der Grundsatz des Doppelschutzverbots nach der ständigen Rechtsprechung darauf basiert, dass der Anmelder kein legitimes Interesse an einem Verfahren hat, das zur Erteilung eines zweiten Patents für denselben Gegenstand führt (G 1/05 date: 2007-06-28, ABl. 2008, 271; G 1/06, ABl. 2008, 307; s. auch T 1391/07, T 877/06, T 1708/06, T 469/03). Im vorliegenden Fall enthielt Anspruch 1 technische Merkmale, die in keinem Anspruch des auf die ursprüngliche Stammanmeldung erteilten Patents beansprucht worden waren. Da also das für die Stammanmeldung erteilte Patent und das Streitpatent unterschiedliche Gegenstände beanspruchten, stelle sich die Frage der Doppelpatentierung nicht. Die Kammer nahm zur Kenntnis, dass sich der Beschwerdegegner u. a. auf den Leitsatz von T 307/03 berief, wonach ein Einwand wegen Doppelpatentierung auch dann erhoben werden kann, wenn der Gegenstand des erteilten Patents im Gegenstand des später eingereichten Anspruchs enthalten ist. Sie sah darin aber keinen Grund, von dem obligatorischen Erfordernis "desselben Gegenstands" abzuweichen, das sich aus den Entscheidungen G 1/05 date: 2007-06-28 und G 1/06 sowie der ständigen Rechtsprechung ergibt. S. auch T 1155/11.
In T 1766/13 entschied die Kammer, dass für den vorliegenden Fall ein Erzeugnis und ein Verfahren zu seiner Herstellung nicht "derselbe Gegenstand" im Sinne von G 1/05 date: 2007-06-28 und G 1/06 sind. Laut T 1765/13 gilt dies auch für die Verwendung eines Erzeugnisses und ein Verfahren zu seiner Herstellung. Ein weiterer Fall, in dem die Stammanmeldung und die Teilanmeldung nicht denselben Gegenstand betrafen, ist in T 1708/06 behandelt.
In T 1780/12 stellte die Kammer fest, dass die Anspruchskategorie und die technischen Merkmale den Anspruchsgegenstand und bestimmen den Schutzbereich (s. G 2/88, ABl. 1990, 93) definieren. Die fraglichen Ansprüche gehörten unterschiedlichen Kategorien an: schweizerische Ansprüche sind zweckgebundene Verfahrensansprüche (Verwendung von X zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung von Y), wohingegen nach Art. 54 (5) EPÜ abgefasste Ansprüche zweckgebundene Erzeugnisansprüche sind (X zur Verwendung in der Behandlung von Y). Zu den technischen Merkmalen stellte die Kammer fest, dass beide Anspruchssätze zwar dieselbe Verbindung und dieselbe therapeutische Verwendung definierten, die schweizerischen Ansprüche im Gegensatz zu dem Anspruch gemäß Art. 54 (5) EPÜ aber zusätzlich das Merkmal der Herstellung eines Arzneimittels umfassten. Damit war der beanspruchte Gegenstand jeweils ein anderer. Die Kammer stellte außerdem fest, dass die Schutzbereiche sich merklich unterschieden. Es ist allgemein als Grundprinzip des EPÜ anerkannt, dass ein Anspruch auf eine bestimmte Tätigkeit (z. B. Methode, Verfahren, Verwendung) einen geringeren Schutz verleiht als ein Anspruch auf einen Gegenstand an sich (s. Entscheidung G 2/88). Daraus folgt, dass ein zweckgebundener Verfahrensanspruch ebenfalls weniger Schutz verleiht als ein zweckgebundener Erzeugnisanspruch. (S. auch T 879/12, T 13/14 und T 15/14, die sich den Feststellungen in T 1780/12 anschließen.)
In T 2563/11 hatten die Beschwerdeführer geltend gemacht, dass trotz des identischen Wortlauts der unabhängigen Ansprüche des Stammpatents und der Teilanmeldung aufgrund der Unterschiede der jeweiligen Beschreibungen ein jeweils unterschiedlicher Schutzbereich nach Art. 69 EPÜ vorläge und daher das Verbot der Doppelpatentierung nicht greife. Die Kammer betonte aber, dass für das Doppelpatentierungsverbot darauf abzustellen sei, ob "derselbe Gegenstand" beansprucht werde. Dieser werde durch die Kategorie sowie die technischen Merkmale des Patentanspruchs definiert (Art. 84 EPÜ, R. 43 (1) EPÜ). Bei der Frage, ob der beanspruchte Gegenstand derselbe ist, sei folglich nicht auf die Beschreibung zurückzugreifen, insbesondere dann nicht, wenn die Patentansprüche aus sich heraus klar und verständlich seien (vgl. T 197/10). Hingegen werde der von einem europäischen Patent gewährte Schutzbereich zwar ebenfalls durch die Patentansprüche bestimmt, jedoch seien gemäß Art. 69 (1) EPÜ die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen. Vor diesem Hintergrund ergebe sich, dass der Schutzbereich des Patents breiter sein könne als der beanspruchte Gegenstand. Im konkreten Fall teilte die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführer nicht, dass der beanspruchte Gegenstand des Anspruchs 1 der Teilanmeldung aufgrund der erheblichen Unterschiede zwischen den Beschreibungen breiter sei als der des Stammpatents.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”