4.1. Einleitung
Im Einklang mit dem in der Entscheidung G 9/91 angeführten Grundsatz (ABl. 1993, 408, Nr. 18 der Entscheidungsgründe; s. auch z. B. T 2194/14, T 1102/15, T 343/16 und T 632/16) verweist die VOBK 2020 in ihrem neuen Art. 12 (2) VOBK 2020 darauf, dass das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens darin besteht, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen. Bei zahlreichen Entscheidungen wird in der Begründung auf diesen Grundsatz verwiesen, wenn die Bestimmungen der VOBK 2020 zur Anwendung kommen, die die neuen Vorbringen im Beschwerdeverfahren regeln (siehe z. B. J 3/20, T 2214/15, T 786/16, T 256/17, T 2778/17, T 1422/17, T 1456/20).
Die Tatsache, dass die Aufgabe der Kammern in erster Linie darin besteht, die angefochtene Entscheidung zu überprüfen, hat u. a. zur Folge, dass die Beteiligten im Verlauf des Beschwerdeverfahrens immer weniger Möglichkeiten zur Änderung ihres Vorbringens erhalten (siehe z. B. T 1370/15, T 2778/17 und CA/3/19, Abschnitt V.B.c), Nummer 48, Zusatzpublikation 2, ABl. 2020). Dieser "Konvergenzansatz" (auf den in zahlreichen Entscheidungen bei der Auslegung der betreffenden Bestimmungen der VOBK 2020 Bezug genommen wird, siehe z. B. T 2214/15, T 2227/15, T 2279/16, T 2778/17) umfasst drei Stufen, die nun in den neuen Artikeln 12 (4) VOBK 2020, Artikeln 13 (1) VOBK 2020 und Artikeln 13 (2) VOBK 2020 geregelt sind. Welche dieser Bestimmungen Anwendung findet, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt ein Beteiligter sein Vorbringen ändert:
– zu Beginn des Beschwerdeverfahrens – Stufe 1 des Konvergenzansatzes – Art. 12 (4) VOBK 2020;
– nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder Erwiderung durch den Beteiligten – Stufe 2 des Konvergenzansatzes – Art. 13 (1) VOBK 2020;
– nach Ablauf der in einer Mitteilung nach R. 100 (2) EPÜ gesetzten Frist oder nach Zustellung einer Ladung zur mündlichen Verhandlung – Stufe 3 des Konvergenzansatzes – Art. 13 (2) VOBK 2020.
Diese Bestimmungen sind, soweit die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt sind, kumulativ anwendbar. Die Erfordernisse der ersten Stufe des Konvergenzansatzes – die in Art. 12 (4) bis (6) VOBK 2020 festgelegt sind – gelten während des gesamten Beschwerdeverfahrens, also auch in den Phasen des Beschwerdeverfahrens, die durch Art. 13 (1) und (2) VOBK 2020 geregelt werden (siehe CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 12 (6) VOBK 2020, letzter Absatz; die Tabelle zu den Änderungen der VOBK mit Erläuterungen wurde auch in der Zusatzpublikation 2, ABl. 2020, veröffentlicht). Durch ausdrücklichen Verweis auf Art. 12 (4) bis (6) VOBK 2020 wird in Art. 13 (1) VOBK 2020 klargestellt, dass die dort angegebenen Kriterien entsprechend für jedes Vorbringen gelten, das erfolgt, nachdem ein Beteiligter seine Beschwerdebegründung oder Erwiderung eingereicht hat. T 2486/16 und T 2429/17 sind Beispiele für Entscheidungen, bei denen diese Kriterien auf die dritte Phase des Verfahrens angewendet wurden. Alle Entscheidungen hinsichtlich der Erfordernisse der ersten Stufe des Konvergenzansatzes nach Art. 12 (4) bis (6) VOBK 2020 werden in Kapitel V.A.4.3 "Erste Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen in der Beschwerdebegründung und Erwiderung – Artikel 12 (3) bis (6) VOBK 2020" aufgeführt, unabhängig von der Phase des Verfahrens, in der die betreffenden Vorbringen eingereicht wurden.
Bezüglich Art. 13 (1) VOBK 2020 haben zahlreiche Entscheidungen bestätigt, dass die Kriterien dieser Bestimmung auch auf der dritten Stufe des Konvergenzansatzes angewendet werden können (siehe z. B. T 2227/15 und T 584/17 mit einer ausführlichen Erläuterung basierend auf den vorbereitenden Arbeiten im Dokument CA/3/19, Abschnitt VI, Erläuterungen zu Art. 13 (2) VOBK 2020, vierter Absatz). Für weitere Einzelheiten zur Anwendung der Kriterien von Art. 13 (1) VOBK 2020 auf der dritten Stufe siehe Kapitel V.A.4.5.9 "Ermessens nach Artikel 13 (2) VOBK 2020 – Grundsätze".
Die Bestimmungen von Art. 12 (4) VOBK 2020, Art. 13 (1) VOBK 2020 und Art. 13 (2) VOBK 2020 gelten nur für Fälle, bei denen ein Beteiligter sein Vorbringen geändert hat (d. h. sein Vorbringen in erster Instanz, soweit es Art. 12 (4) VOBK 2020 betrifft, oder sein Beschwerdevorbringen, soweit es Art. 13 (1) und (2) VOBK 2020 betrifft). Im Hinblick auf Art. 13 (2) VOBK 2020 erläuterte die Kammer in T 247/20, dass die Prüfung nach zwei Kriterien zu erfolgen habe. Die erste Frage laute, ob das beanstandete Vorbringen eine Änderung des Beschwerdevorbringens eines Beteiligten darstelle. Werde diese Frage verneint, habe die Kammer keinen Ermessensspielraum, um das Vorbringen nicht zuzulassen. Werde diese Frage jedoch bejaht, dann müsse die Kammer entscheiden, ob außergewöhnliche, durch stichhaltige Gründe gerechtfertigte Umstände dafür vorliegen, dass das Vorbringen berücksichtigt werden sollte (zweistufiges Verfahren, bestätigt z. B. in J 14/19, T 2988/18 und T 528/19). Eine Übersicht über Entscheidungen zu dieser vorab zu klärenden Frage, ob neues Vorbringen eine Änderung darstellt, ist in Kapitel V.A.4.2 "Änderung des Vorbringens eines Beteiligten" enthalten.
Wie in T 2227/15 von der Kammer angemerkt, spiegeln die Übergangsbestimmungen in Art. 25 VOBK 2020 die Struktur für die Zulässigkeit von Vorbringen der Beteiligten im Beschwerdeverfahren systematisch wider, die nach der VOBK 2020 durch einen dreistufigen Konvergenzansatz gekennzeichnet ist. Art. 25 (2) und (3) VOBK 2020 ist eindeutig auf zwei enge Ausnahmen gerichtet und auf diese beschränkt. Nur die Bestimmungen, die speziell die Anfangsphase und die Endphase regeln, wurden von der sofortigen Anwendung der VOBK 2020 ausgeschlossen, während das Zwischenstadium, also die zweite Stufe des Konvergenzansatzes (Art. 13 (1) VOBK 2020), der allgemeinen Regelung in Art. 25 (1) VOBK 2020 unterliegt. Wurde also die Ladung zur mündlichen Verhandlung oder eine Mitteilung nach R. 100 (2) EPÜ vor dem 1. Januar 2020 zugestellt, so gilt Art. 13 (1) VOBK 2020 gleichzeitig mit Art. 13 (1) und (3) VOBK 2007 (siehe z. B. T 634/16, T 32/16, T 2227/15). Siehe auch die Kapitel V.A.4.3.2, V.A.4.4.2 und V.A.4.5.2 zu näheren Einzelheiten zur Anwendung der Übergangsbestimmungen. Kammerentscheidungen, die aufgrund der einschlägigen Übergangsbestimmungen Art. 13 (1) VOBK 2020 (und gegebenenfalls Art. 13 (1) VOBK 2007 and Art. 13 (3) VOBK 2007) auf Vorbringen anwenden, das erst nach Zustellung der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurde, werden trotz Einreichung im letzten Verfahrensstadium im Kapitel V.A.4.4. "Zweite Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen nach Einreichung der Beschwerdebegründung oder Erwiderung – Artikel 13 (1) VOBK 2020" dargestellt.
- T 1656/17
Catchword:
There is no legal basis in the EPC or the RPBA (in the versions of 2007 and 2020) that prevents the board from examining in the case at hand an objection of lack of inventive step raised by the respondent in the appeal proceedings against the patent as granted or as amended that was not addressed in the decision under appeal. Nor does the case law prevent the board from doing so. This means that the board may examine whether such an objection is substantiated, whether it should be admitted into the appeal proceedings and whether it prejudices the maintenance of the patent as granted or as amended, as the case may be. (See section 2 of the Reasons)