1.2. Anwendung der Auslegungsregeln
Die Große Beschwerdekammer erklärte, dass sie bei der Auslegung von Vorschriften des EPÜ in der Regel mit dem Wortlaut der betreffenden Vorschrift beginnt; selbst wenn die Bedeutung aus diesem Wortlaut eindeutig hervorgeht, ist danach zu prüfen, ob das Ergebnis der wörtlichen Auslegung durch die Bedeutung der Wörter in ihrem Zusammenhang bestätigt wird. Es ist durchaus möglich, dass der Wortlaut nur oberflächlich eine eindeutige Bedeutung hat. In jedem Falle darf eine wörtliche Auslegung nicht im Widerspruch zum Zweck der Vorschrift stehen (s. G 1/90, ABl. 1991, 275, 278, Nr. 4 der Gründe; G 6/91, ABl. 1992, 491, 499, Nr. 15 der Gründe; G 3/98, ABl. 2001, 62, 71 ff., Nr. 2.2 der Gründe). In G 2/12 konnte dem Wortlaut im Prinzip mehr als eine Bedeutung zugewiesen werden (vgl. G 1/88, ABl. 1989, 189, 193, Nr. 2.2 der Gründe). Daher musste die eigentliche und beabsichtigte Bedeutung des Begriffs "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" näher analysiert werden.
In G 1/18 (ABl. 2020, A26) verwies die Große Beschwerdekammer unter der Nummer IV.1, in der es um die wörtliche Auslegung ging, auf die Grundsätze aus G 2/12 und traf eine wörtliche Auslegung von Art. 108 Satz 1 EPÜ gefolgt von einer engen wörtlichen Auslegung von Art. 108 Satz 2 EPÜ und einer breiten wörtlichen Auslegung derselben Bestimmung. Sie kam zu dem Schluss, dass bei einer wörtlichen Auslegung basierend auf der kombinierten Lesart von Art. 108 EPÜ Sätze 1 und 2 EPÜ (breite wörtliche Auslegung) eine Beschwerde nur dann wirksam eingelegt ist, wenn die Beschwerdegebühr innerhalb der vorgeschriebenen Frist von zwei Monaten entrichtet wird. Der Wortlaut der drei Sprachfassungen dieser Vorschrift sei nicht widersprüchlich. Diese wörtliche Auslegung des Art. 108 EPÜ Sätze 1 und 2 EPÜ führe zu einem Ergebnis, das dem Zweck der Bestimmung entspreche.
In T 844/18 stellte die Kammer fest, dass das EPÜ ein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 der Pariser Verbandsübereinkunft ist und die Anwendung seiner Bestimmungen deshalb den in der Pariser Verbandsübereinkunft festgelegten Prioritätsgrundsätzen nicht entgegenstehen darf. Deshalb musste zur Auslegung des Begriffs "any person" in der englischen Fassung von Art. 87 (1) EPÜ der gleichlautende Rechtsbegriff in Art. 4A der Pariser Verbandsübereinkunft ausgelegt werden, wobei die Auslegung in beiden Verträgen dieselbe sein musste. Die Kammer befand, dass die gewöhnliche Bedeutung des Begriffs "any person" in Art. 87 (1) EPÜ unklar sei. Der Ausdruck "celui qui" in der authentischen französischen Fassung von Art. 4A der Pariser Verbandsübereinkunft sei möglicherweise weniger unklar und eher geeignet, den "Alle Anmelder"-Ansatz zu stützen. Der "Alle Anmelder"-Ansatz sei aus der Perspektive der gewöhnlichen Bedeutung sicherlich eine plausible und wohl die einzige von mehreren EPÜ-Mitgliedstaaten in den letzten hundert Jahren einheitlich angewandte Auslegung dieses Begriffs (s. Nrn. 36 ff. und 83 der Gründe). Die Kammer befasste sich deshalb mit Ziel und Zweck der Pariser Verbandsübereinkunft.
In T 2320/16 stellte die Kammer fest, es könne unter Berücksichtigung der gewöhnlichen Bedeutung der in Art. 116 EPÜ vorhandenen Begriffe nicht geschlossen werden, dass mündliche Verhandlungen per Videokonferenz gegen das in diesem Artikel festgelegte Recht auf eine mündliche Verhandlung verstießen. Die Kammer fügte hinzu, dass die "Travaux préparatoires" zu Art. 116 EPÜ 1973 die Auslegung von Art. 116 EPÜ durch die Kammer weder bestätigten noch widerlegten.