7.2.4 Neuheit der therapeutischen Anwendung
In T 290/86 (ABl. 1992, 414) gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass die so beanspruchte Erfindung neu war. Sie begründete ihre Entscheidung wie folgt: "Wenn sowohl ein früheres Dokument als auch eine beanspruchte Erfindung eine ähnliche Behandlung des menschlichen Körpers für denselben therapeutischen Zweck zum Gegenstand haben, stellt die beanspruchte Erfindung gegenüber dem früheren Dokument eine weitere medizinische Verwendung im Sinne der Entscheidung G 1/83 dar, wenn sie sich auf eine andere technische Wirkung gründet, die gegenüber der früheren Offenbarung sowohl neu als auch erfinderisch ist". Die als neu erachtete technische Wirkung bestand hier in der Beseitigung des Zahnbelags, während im Stand der Technik nur die verminderte Löslichkeit des Zahnschmelzes in organischen Säuren offenbart war (s. auch T 542/96 und T 509/04).
In T 836/01 erkannte die Kammer an, dass Ansprüche, die auf die Verwendung von IL-6 zur unmittelbaren Beeinflussung des Wachstums und der Differenzierung von Tumoren gerichtet waren, neu gegenüber einer zum Stand der Technik gehörenden Offenbarung der Verwendung von IL-6 zur mittelbaren Behandlung von Krebs durch Aktivierung der T-Zellen waren; d. h., die Kammer urteilte, dass Krebstherapie als medizinische Indikation gegenüber der Stärkung des Immunsystems eine neue technische Wirkung darstellte. In Anwendung der Grundsätze aus der Entscheidung G 1/83 (ABl. 1985, 60) gelangte die Kammer zu der Auffassung, dass die in der beanspruchten Erfindung angeführte technische Wirkung eine neue klinische Situation ausmachte. Aus der Tatsache, dass ein neues klinisches Bild nicht als abstraktes Konzept von dem Patienten zu trennen ist, der darunter leidet, war zu folgern, dass diese neue klinische Situation auch eine neue Untergruppe von Personen ausmachte, die behandelt wurden (T 1642/06).
In T 2251/14 stellte die Kammer unter Bezugnahme auf T 836/01 fest, dass eine zweite medizinische Verwendung eines bekannten Stoffs nur als neu betrachtet werden kann, wenn die neue technische Wirkung zu einer wirklich neuen gewerblichen/kommerziellen Anwendung führt, die auf der Heilung eines anderen klinischen Befunds beruht. Sie befand, dass im vorliegenden Fall die neue technische Wirkung "Förderung der Ausgewogenheit von nützlichen und schädlichen Bakterien im Magen-Darm-Trakt eines Tiers mit entzündlicher Darmerkrankung (inflammatory bowel disease, IBD) oder einem Risiko dafür" eine neue medizinische Verwendung darstellte, da die beanspruchte neue technische Wirkung einen neuen klinischen Befund betraf, nämlich die Möglichkeit, auf die Magen-Darm-Flora eines Tieres mit entzündlicher Darmerkrankung bzw. einem entsprechenden Risiko abzuzielen.
In T 1955/09 musste die Kammer entscheiden, ob es sich bei der beanspruchten Verwendung um eine weitere, von der Offenbarung des Dokuments (D1) abweichende therapeutische Verwendung handelte. Der Kammer zufolge konnte man nicht schlussfolgern, dass die in der beanspruchten Erfindung angeführte technische Wirkung, d. h. die antibiotische Wirkung, eine bloße Erklärung dafür darstellt, wie die Verbindungen Gifte hemmten oder neutralisierten. Vielmehr machte diese Wirkung eine neue klinische Situation aus, in der es nämlich vorzuziehen sein könnte, auf die Infektion selbst abzuzielen und nicht nur auf die Giftstoffe, die von den infektionserregenden Bakterien oder Pilzen erzeugt werden. Laut Kammer basierte diese Argumentation darauf, dass zwischen einer direkten und einer indirekten Wirkung auf Ansprüche unterschieden wird, die eine zweite oder weitere medizinische Verwendung einer bekannten Substanz betreffen (s. oben T 836/01 und T 1642/06). Angesichts des Vorstehenden war die Kammer davon überzeugt, dass der Gegenstand des strittigen Anspruchs 1 den Erfordernissen des Art. 54 (1) und (3) EPÜ gegenüber der Offenbarung im Dokument D1 genügte.
T 1972/14 betraf einen Anspruch in der schweizerischen Anspruchsform, der auf die Herstellung einer bestimmten Säuglingsanfangsnahrung gerichtet war, um so das sich in Umlauf befindliche Niveau an IGF-1 in den ersten Lebensmonaten des Kindes kontinuierlich zu verringern und damit das Risiko zu senken, später im Leben an Adipositas zu erkranken. Die Senkung des Adipositas-Risikos war die zu erzielende therapeutische Wirkung, die kontinuierliche Verringerung des IGF-1 der dieser Wirkung zugrunde liegende Mechanismus. Ein schweizerischer Anspruch kann durch die beanspruchte therapeutische Wirkung Neuheit erlangen, nicht jedoch durch den zugrunde liegenden Mechanismus. Im Stand der Technik war dieselbe Formulierung verwendet worden, und nach Auffassung der Kammer war die Wirkung damit offenbart, weil der betreffende Stand der Technik davon ausging, dass zwischen einem reduzierten Proteingehalt und Adipositas später im Leben ein Zusammenhang besteht.
- T 558/20
Catchword:
On the assessment of novelty under Article 54(5) EPC (point 2 of the reasoning), in particular when a claim defines a combined surgical and therapeutic method (points 3.2 and 5 of the reasoning)
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”