3.4. Neue Einspruchsgründe
In G 1/95 und G 7/95 ("Neue Einspruchsgründe", ABl. 1996, 615 und 626; gemeinsames Verfahren) klärte die Große Beschwerdekammer zuerst, was in Art. 100 EPÜ im Allgemeinen und in Buchstabe a im Besonderen unter "Einspruchsgründe" zu verstehen ist; hierbei gelte es auch der Stellungnahme G 10/91 Rechnung zu tragen (ABI. 1993, 408 und ABl. 1993, 420, in der die Große Beschwerdekammer erstmals den Begriff "neuer Einspruchsgrund" im Zusammenhang mit der richtigen Anwendung des Art. 114 (1) EPÜ im Einspruchsbeschwerdeverfahren verwendet hat – s. auch die Zusammenfassung von G 10/91 in diesem Kapitel IV.C.3.3.).
Sie stellte fest, dass Art. 100 EPÜ im Rahmen des EPÜ limitierend regeln soll, auf welche Rechtsgrundlagen, d. h. auf welche Einwände, ein Einspruch gestützt werden kann, wobei es zu jedem in Art. 100 EPÜ genannten "Einspruchsgrund" ein entsprechendes Erfordernis in einem anderen Artikel des EPÜ gibt, das im Erteilungsverfahren erfüllt werden muss. Während sich aber die Einspruchsgründe in Art. 100 b) und c) EPÜ jeweils auf eine einzelne, klar abgegrenzte Rechtsgrundlage für einen Einspruch beziehen, stellen sämtliche Artikel im Sinne des Art. 100 a) EPÜ (Art. 52 bis 57 EPÜ) eine Sammlung verschiedener Einwände dar. Die Große Beschwerdekammer führte ferner aus, dass im Wortlaut von R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) eindeutig unterschieden wird zwischen den Einspruchsgründen, mit denen – wie in Art. 100 a) EPÜ 1973 – die rechtlichen Gründe oder Rechtsgrundlagen gemeint sind, und der Substanziierung. Demgemäß ist ein "Einspruchsgrund" im Kontext der Art. 99 und 100 EPÜ 1973 sowie R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) dahin gehend auszulegen, dass er die jeweilige Rechtsgrundlage für einen Einwand gegen die Aufrechterhaltung eines Patents darstellt. Daraus ergibt sich insbesondere, dass Art. 100 a) EPÜ 1973 eine Sammlung verschiedener Rechtseinwände (d. h. Rechtsgrundlagen) oder auch Einspruchsgründe enthält und nicht auf einen einzigen Einspruchsgrund gerichtet ist.
In G 1/95 (ABl. 1996, 615) erklärte die Große Beschwerdekammer weiter: Ist der Einspruch gegen ein Patent aufgrund der in Art. 100 a) EPÜ genannten Einspruchsgründe eingelegt, aber nur mit mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit substanziiert worden, so gilt der Einwand, dass der Gegenstand nach Art. 52 (1) und (2) EPÜ nicht patentfähig ist, als neuer Einspruchsgrund.
In G 7/95 (ABl. 1996, 626) wurde Folgendes festgestellt: Ist gegen ein Patent gemäß Art. 100 a) EPÜ mit der Begründung Einspruch eingelegt worden, dass die Patentansprüche gegenüber den in der Einspruchsschrift genannten Entgegenhaltungen keine erfinderische Tätigkeit aufweisen, so gilt ein auf die Art. 52 (1) EPÜ und Art. 54 EPÜ gestützter Einwand wegen mangelnder Neuheit gegenüber diesen Entgegenhaltungen als neuer Einspruchsgrund. Die Behauptung, dass die nächstliegende Entgegenhaltung für die Patentansprüche neuheitsschädlich ist, kann jedoch bei der Entscheidung über den Einspruchsgrund der mangelnden erfinderischen Tätigkeit geprüft werden.
Nach Auffassung der Kammer in T 514/04 wurde der ursprünglich gegen den Verfahrensanspruch 5 erhobene Einwand der mangelnden Neuheit nicht auf die durch dieses Verfahren hergestellten Erzeugnisse, mithin auch nicht auf die Erzeugnisse nach Anspruch 1 bis 4, ausgedehnt. Deswegen war der im Beschwerdeverfahren erstmals vorgebrachte Neuheitseinwand gegen die Ansprüche 1 bis 4 als neuer Einspruchsgrund zu werten. S. auch T 1244/13.
In T 1959/09 beantragte der Patentinhaber (Beschwerdegegner), die Kammer möge der Großen Beschwerdekammer die Frage vorlegen, ob ein bestehender, bereits gegen einen anderen unabhängigen Anspruch vorgebrachter Einspruchsgrund einen neuen Einspruchsgrund im Sinne von G 10/91 darstellte. Hierfür verwies der Patentinhaber auf T 514/04 (s. oben), wo die Kammer festgestellt hatte, dass Einspruchsumfang und Einspruchsgrund nach R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) in der Weise zusammenhängen, dass aufgrund eines bestimmten Einspruchsgrunds (oder mehrerer Einspruchsgründe) Einspruch gegen einen bestimmten Anspruch (oder mehrere Ansprüche) eingelegt wird. Die Kammer sah keine Notwendigkeit für eine solche Vorlage, da sowohl der Einspruchsgrund nach Art. 100 c) EPÜ als auch die Frage, ob die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt seien, in der angefochtenen Entscheidung gebührend berücksichtigt worden seien. Die Kammer grenzte außerdem den vorliegenden Fall, in dem die Ansprüche 1 und 17 des Hauptantrags beide zur selben Kategorie gehörten und praktisch denselben Gegenstand umfassten, von dem Fall in T 514/04 ab, in dem sich die Frage stellte, ob ein gegen einen Verfahrensanspruch vorgebrachter Einspruchsgrund gleichermaßen auf einen Anspruch auf ein mit diesem Verfahren hergestelltes Erzeugnis anwendbar sei. T 514/04 sei somit für den vorliegenden Fall nicht relevant.
Die Kammer merkte am Rande an, dass G 10/91 keine Grundlage für die allgemeine Annahme biete, dass ein gegen einen unabhängigen Anspruch vorgebrachter Einspruchsgrund vom Einsprechenden nicht später gegen einen anderen unabhängigen Anspruch geltend gemacht werden könne, der vom Umfang des Einspruchs mitumfasst sei. Die relevanten Stellen in G 10/91, die diese Annahme stützten, würden in T 514/04 weder genannt noch erläutert. Tatsächlich werde in G 10/91 offenbar davon ausgegangen, dass ein neuer Einspruchsgrund ein "durch die Erklärung gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 nicht abgedeckter Einspruchsgrund" sei; nichts in dieser Entscheidung lasse darauf schließen, dass damit aufgrund einer weiten Auslegung viel mehr gemeint sei als nur irgendein gegen einen bestimmten Anspruch vorgebrachter Einspruchsgrund, der nicht von der Erklärung gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) abgedeckt werde.
S. auch in diesem Kapitel IV.C.3.4.4 "Einwände mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit".
Für Entscheidungen, die sich mit der Bedeutung von "neuem Einspruchsgrund" im Rahmen des Beschwerdeverfahrens befassen, s. T 520/01 und T 620/08. S. auch Kapitel V.A.3.2.3 h) "Neuer Einspruchsgrund im Beschwerdeverfahren".