2.6.1 Einführung eines neuen Anspruchs, eines relevanten Dokuments oder eines neuen Arguments
In T 484/89 führte die Kammer aus, dass die Einspruchsabteilung aufgrund von Art. 114 (1) EPÜ die Kompetenz habe, alle relevanten Entgegenhaltungen zu berücksichtigen bzw. aufzugreifen. In der vorliegenden Sache habe sich die Einspruchsabteilung veranlasst gesehen, ein Dokument während der mündlichen Verhandlung aufzugreifen. In solchen Fällen sollte sie jedoch allenfalls auf Antrag der Parteien eine Verhandlungspause gewähren oder eine neue Verhandlung anberaumen. Da ein solcher Antrag weder aus der Entscheidung noch aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung hervorgehe, liege kein Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ vor.
In T 608/08 befand die Kammer, dass ein Einsprechender bei Vorlage neuer Patentansprüche des Patentinhabers während der mündlichen Verhandlung grundsätzlich Gelegenheit erhalten muss, sich in die neue Antragslage einzuarbeiten, was zumindest durch eine angemessen lange Unterbrechung der mündlichen Verhandlung erfolgen muss. Dies gelte aber nur für inhaltlich neue Anträge. Im vorliegenden Fall bestanden die neuen Hilfsanträge aus einer Kombination von Merkmalen aus Unteransprüchen des Hauptantrags. Die technischen Merkmale der Unteransprüche waren anspruchslos und stellten den Gegenstand des Hauptantrags in keinen neuen, komplexeren technischen Zusammenhang. Die Zulassung des Hilfsantrags bedeutete somit für den Beschwerdeführer keine überraschend neue Prozesssituation, die eine Unterbrechung der mündlichen Verhandlung durch die Einspruchsabteilung geboten hätte (anders in T 783/89, da dort ein völlig neu gefasster Text des Anspruchs ein neues Merkmal einführte, s. oben).
In T 1031/12 brachte der Beschwerdeführer vor, dass erst am Ende der mündlichen Verhandlung im Prüfungsverfahren überraschend ein neues Dokument erstmals genannt worden sei, ohne dass er die Möglichkeit gehabt habe, sich dazu zu äußern. Die Kammer stellte fest, dass dem Vertreter die Zeit zur Verfügung stand, die er selbst als für die Antwort erforderlich bezeichnet hatte. Er hatte somit nicht nur die Gelegenheit, sondern auch ausreichend Zeit, um Stellung zu nehmen.
In T 376/98 hatte sich die Prüfungsabteilung erstmals in der mündlichen Verhandlung auf die Druckschrift D4 bezogen, und die mündliche Verhandlung verschoben, um dem Anmelder für die Prüfung der Druckschrift Zeit einzuräumen. Bei Fortsetzung der mündlichen Verhandlung beantragte der Beschwerdeführer eine Entscheidung anhand der Aktenlage. Hinsichtlich der Einführung von D4 erst in der mündlichen Verhandlung bemerkte die Kammer, dass es für die Prüfungsabteilung keine verfahrensrechtlichen Einschränkungen gebe und sie in jeder Phase des Prüfungsverfahrens relevante Dokumente zitieren könne, solange der Anmelder eine faire Chance erhalte, vor der endgültigen Entscheidung zu den erhobenen Einwänden Stellung zu nehmen (s. T 1198/97). Nach Auffassung der Kammer konnte der Antrag des Beschwerdeführers auf eine Entscheidung nur so verstanden werden, dass der Beschwerdeführer an einer weiteren Beratung über die Relevanz der Druckschrift D4 nicht interessiert war.
In T 566/91 hatte die Einspruchsabteilung den Widerruf des Patents auf eine Fassung einer Entgegenhaltung gestützt, die vollständiger war als die Fassung, die die Einsprechenden bei der Einlegung des Einspruchs angeführt hatten. Die Entscheidung der erstinstanzlichen Abteilung beruhte somit, wenngleich ungewollt, auf Beweismitteln, zu denen sich die Beteiligten nicht hatten äußern können. Damit Art. 113 EPÜ im Beschwerdeverfahren Genüge getan wurde, bot die Kammer den Beteiligten eine halbstündige Unterbrechung der mündlichen Verhandlung an, damit sie mithilfe der Dolmetscher die vollständigere Fassung des Dokuments prüfen konnten.
In T 834/14 akzeptierte es die Einspruchsabteilung, weitere Einwände zu berücksichtigen, die der Einsprechende erst in der mündlichen Verhaltung erhob, woraus sich normalerweise das Recht ergeben würde, eine Erwiderung auf diese neuen Einwände einzureichen. Die Kammer sah jedoch in der Tatsache, dass einer der Einwände seit Beginn des Einspruchsverfahrens aktenkundig war und schon früher hätte behandelt werden können und müssen, eine ausreichende Rechtfertigung dafür, die Einreichung neuer Anträge abzulehnen. Eine solche Entscheidung der Einspruchsabteilung mag als streng angesehen werden, doch befand die Kammer im vorliegenden Fall, dass sie keinen wesentlichen Verfahrensmangel darstellte.