2.8. Allgemeines Fachwissen
Die Bestimmung des allgemeinen Fachwissens spielt eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der Neuheit, der erfinderischen Tätigkeit und der ausreichenden Offenbarung, wobei für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit und der ausreichenden Offenbarung derselbe Wissensstand des Fachmanns maßgeblich ist, s. dazu die Kapitel I.D.8.3. "Wissensstand des Fachmanns" und II.C.4. "Für die Beurteilung der ausreichenden Offenbarung maßgebendes Wissen des Fachmanns" mit weiteren Entscheidungen zum allgemeinen Fachwissen.
Nach der ständigen Rechtsprechung stellen Standardhandbücher, Monografien, Enzyklopädien, Lehrbücher und Nachschlagewerke das allgemeine Fachwissen dar. Dabei handelt es sich um Wissen, das ein auf dem Gebiet erfahrener Fachmann haben sollte bzw. von dem er zumindest wissen muss, dass er es bei Bedarf in einem Fachbuch nachschlagen kann. Die Inhalte solcher Werke werden gern als Beleg dafür angeführt, was alles zum allgemeinen Fachwissen gehört (T 766/91, T 234/93, T 590/94, T 671/94, T 438/97, T 1253/04, T 1641/11).
Nach Art. 54 (2) EPÜ 1973 beschränkt sich der Stand der Technik aber nicht nur auf schriftliche Offenbarungen, sondern umfasst alles, was der Öffentlichkeit "in sonstiger Weise" als technischer Gegenstand zugänglich gemacht worden ist. Fehlt also ein Verweis auf ein konkretes Dokument, so heißt dies noch nicht, dass es keinen Stand der Technik gibt, da dieser durchaus auch nur im einschlägigen allgemeinen Fachwissen bestehen könnte, das wiederum schriftlich in Lehrbüchern oder dergleichen fixiert sein kann oder möglicherweise nur zum ungeschriebenen "geistigen Rüstzeug" des Durchschnittsfachmanns gehört (T 939/92, ABl. 1996, 309; T 329/04).
In T 766/91 stellte die Kammer fest, dass naturgemäß aus einer Reihe von Quellen auf das allgemeine Fachwissen geschlossen werden kann und dass der Nachweis, dass etwas zum einschlägigen allgemeinen Fachwissen gehört, nicht vom Nachweis abhängt, dass ein bestimmtes Dokument an einem bestimmten Datum veröffentlicht wurde.
In T 786/00 stellte die Kammer fest, dass ein Dokument des Stands der Technik im Rahmen der Neuheitsprüfung nach ständiger Rechtsprechung anhand des am Tag seiner Veröffentlichung verfügbaren allgemeinen Fachwissens auszulegen ist. Allgemeines Fachwissen, das an diesem Tag nicht vorhanden war, sondern erst später zugänglich geworden ist, kann nicht zur Auslegung eines derartigen Dokuments herangezogen werden (vgl. T 229/90, T 965/92).
In T 1117/14 ging aus der Anmeldung nicht hervor, wie das beanspruchte biologisch abbaubare Implantat herzustellen war. Die Kammer verwies auf die ständige Rechtsprechung, wonach der Fachmann die in der Anmeldung enthaltenen Informationen durch sein allgemeines Fachwissen vervollständigen kann. Sie befand, dass das Herstellungsverfahren zum allgemeinen Fachwissen auf dem betreffenden Gebiet gehörte. Zwar war es noch nicht in einschlägigen Lehrbüchern und Monografien veröffentlicht, aber doch in wissenschaftlichen Artikeln und der Patentliteratur, und diese würde der Fachmann heranziehen.
In T 2101/12 war nach Auffassung der Kammer der am besten geeignete Ausgangspunkt das allgemeine Fachwissen. Das allgemeine Fachwissen war der nichttechnische Prozess der Vertragsunterzeichnung bei einem Notar. Die Kammer in T 2101/12 befand, dass die Auslegung des Art. 54 (2) EPÜ in T 172/03 falsch war. Sie erklärte, dass der Wortlaut des Art. 54 (2) EPÜ klar war und keiner Interpretation bedurfte. Art. 54 (2) EPÜ selbst enthält keine Einschränkung, wonach ein nichttechnischer Prozess wie eine Vertragsunterzeichnung beim Notar nicht als Stand der Technik gelten könnte.