9.1. Allgemeines
Nach Art. 11 VOBK 2020 verweist eine Kammer eine Angelegenheit nur dann zur weiteren Entscheidung an das Organ zurück, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, wenn besondere Gründe dafür sprechen. Besondere Gründe liegen in der Regel vor, wenn das Verfahren vor diesem Organ wesentliche Mängel aufweist.
Die neue VOBK 2020 trat am 1. Januar 2020 in Kraft (Art. 24 VOBK 2020 und Art. 25 (1) VOBK 2020). Art. 11 VOBK 2020 wurde komplett überarbeitet und ist auf alle Beschwerden anzuwenden, die am Tag des Inkrafttretens anhängig sind oder nach diesem Tag eingelegt werden.
Aus den Erläuterungen zu Art. 11 VOBK 2020 (Zusatzpublikation 2, ABl. 2020) ergibt sich, dass es das Ziel der neuen Vorschrift ist, die Wahrscheinlichkeit eines Ping-Pong-Effekts zwischen den Beschwerdekammern und der ersten Instanz sowie die damit einhergehende unangemessene Verzögerung des Gesamtverfahrens vor dem Europäischen Patentamt zu verringern. Bei der Ermessensausübung gemäß Art. 111 EPÜ soll die Kammer diesem Ziel Rechnung tragen. Ob "besondere Gründe" vorliegen, ist von Fall zu Fall zu entscheiden. Wenn die Kammer alle relevanten Fragen mit angemessenem Aufwand entscheiden kann, sollte sie die Angelegenheit in der Regel nicht zurückverweisen. Auf diese Erläuterungen wurde auch in T 1531/16, T 1089/17, T 335/18 verwiesen.
In T 2154/15 wurde ferner klargestellt, dass das in Art. 111 (1) EPÜ vorgesehene Ermessen durch die VOBK nicht aufgehoben werden kann, was auch explizit in der VOBK formuliert ist, s. insbesondere Art. 23 VOBK 2020. Die in Art. 111 EPÜ festgelegten Befugnisse der Kammern werden durch die VOBK nicht beschränkt.
In T 350/17 merkte die Kammer an, dass das Konzept der "besonderen Gründe" in Art. 11 VOBK 2020 nicht in einer Weise eng ausgelegt werden sollte, die das in Art. 111 (1) EPÜ verankerte Ermessen der Kammer, eine Sache zurückzuverweisen, ungebührlich einschränke; dies stünde im Widerspruch zum Geist des Übereinkommens, das im Konfliktfall Vorrang hat (s. Art. 23 VOBK 2020).