6. Auslegung der Ansprüche
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Nach der ständigen Rechtsprechung sollte der Fachmann versuchen, durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird. Das Patent ist mit der Bereitschaft auszulegen, es zu verstehen, und nicht mit dem Willen, es misszuverstehen (s. unter anderem T 190/99, T 920/00, T 500/01, T 1023/02, T 749/03, T 405/06, T 2480/11, T 2456/12, T 383/14, T 1477/15, T 448/16, T 111/22).
In einer beträchtlichen Zahl von Entscheidungen wurde festgestellt, dass der Fachmann bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen sollte (s. unter anderem T 190/99, T 552/00, T 920/00, T 1023/02, T 749/03, T 859/03, T 1537/05, T 1204/06, T 383/14, T 681/15). In einigen Entscheidungen (T 1408/04, T 1582/08, T 493/09, T 5/14) wurde betont, dies solle lediglich heißen, dass technisch unsinnige Auslegungen ausgeschlossen werden sollten. Für einen zum Verständnis bereiten Leser müsse ein breiter Ausdruck nicht enger ausgelegt werden (auch wenn sich die engere Auslegung wie im T 1408/04 zugrunde liegenden Fall auf eine auf dem betreffenden technischen Gebiet zwar sehr gebräuchliche, aber nicht ausschließlich verwendete Struktur beziehe). In T 1514/14 stellte die Kammer klar, dass wenn ein Anspruch der Auslegung bedarf, der Fachmann versuchen wird, ihn technisch sinnvoll und im Gesamtkontext auszulegen. Dies bedeute aber natürlich nicht, dass nur solche Auslegungen als technisch sinnvoll gelten können, bei denen die Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind.
In der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist anerkannt, dass einer unspezifischen Definition in einem Anspruch die im Kontext des Anspruchs weiteste technisch sinnvolle Bedeutung zuzuweisen ist (z. B. T 79/96, T 596/96, T 1266/19). In T 1553/19 wurde diese Regel der Anspruchsauslegung auf ein negativ definiertes Merkmal angewandt ("in Abwesenheit von [...] metallorganischen Katalysatoren"). Die Kammer erklärte, dass der breiteste Umfang des Anspruchs der engsten (d. h. eingeschränktesten) technisch sinnvollen Definition des auszuschließenden Elements entspricht.
In T 1354/18 wies die Kammer darauf hin, dass Patentansprüche eine technische Lehre vermitteln und an einen Leser mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Anmeldung gerichtet sind. Für die zutreffende Auslegung von Anspruchsmerkmalen müsse daher stets deren technischer Wortsinn im technischen Gesamtzusammenhang aller Merkmale aus Sicht des Fachmanns maßgeblich sein und nicht eine rein linguistische Analyse des Wortlauts einzelner Begriffe. Den in Patentdokumenten verwendeten Begriffen sei daher vorrangig die im einschlägigen Stand der Technik übliche Bedeutung zu geben. Hierbei könne es ohne Weiteres sein, dass der Fachmann auf dem einschlägigen technischen Fachgebiet bestimmte Begriffe unter Zugrundelegung seines allgemeinen Fachwissens anders als auf Grundlage einer rein linguistischen Analyse versteht. Ebenso sei es möglich, dass die Patentschrift selbst einzelnen Merkmalen eine bestimmte Bedeutung beimisst, die von einem rein linguistischen Verständnis abweicht; insofern könne ein Patentdokument sein eigenes Wörterbuch darstellen. Die Auslegung müsse zu einem technisch sinnvollen Ergebnis führen, wobei den Ansprüchen normalerweise die breiteste technisch sinnvolle Bedeutung beizumessen sei. Die linguistische Analyse eines Merkmals könne die Analyse des technischen Wortsinns bestenfalls ergänzen oder bestätigen, nicht aber ersetzen. Siehe auch T 2007/19, T 1382/20.
In T 42/22 prüfte die Kammer, ob ein unabhängiger Erzeugnisanspruch 1 im Zusammenhang mit dem Verfahrensanspruch 6 auszulegen ist. Nach Auffassung der Kammer kann die Auslegung des Erzeugnisanspruchs 1 nicht davon abhängig sein, ob der Verfahrensanspruch 6 im Anspruchssatz enthalten ist oder nicht. Jeder Anspruch ist unabhängig auszulegen. Die Kammer fand in Art. 84 EPÜ keine Stützung für die Behauptung, dass alle Ansprüche zusammen ausgelegt werden müssten. Außerdem gab es eine mit der gewählten Auslegung von Anspruch 1 kompatible technisch sinnvolle Auslegung von Anspruch 6. Die Kammer wies darauf hin, dass laut Rechtsprechung eine technisch sinnvolle Auslegung auch dann nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn zusätzliche Auslegungen möglich sind.
Zur Zuhilfenahme der Beschreibung und der Zeichnungen bei der Auslegung der Ansprüche siehe dieses Kapitel II.A.6.3. "Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche".
In T 1513/12 hielt die Kammer fest, dass eine zwischen den Verfahrensbeteiligten einvernehmliche Auslegung eines Patentanspruchs für die Beschwerdekammer nicht als verbindlich anzusehen ist. Die Dispositionsmaxime ist nämlich nicht so zu verstehen, dass sich die Verfahrensbeteiligten eine Auslegung des Patents aussuchen könnten, die zwar für sie selbst zufriedenstellend, jedoch für an dem Verfahren Nichtbeteiligte von Bedeutung sein könnte. Bestätigt in T 2319/18 und T 1024/19.
In T 1473/19 wies die Kammer darauf hin, dass die Anspruchsauslegung generell eine Rechtsfrage ist, die letztlich vom betreffenden Spruchkörper und nicht von linguistischen oder technischen Sachverständigen beantwortet werden muss. Sie umfasst jedoch die Beurteilung sprachlicher und technischer Fakten, die durch von den Parteien vorgelegte Beweise untermauert werden können. In T 450/20 und T 1494/21 stimmte die Kammer dem zu und betonte, dass eine Beschwerdekammer nicht auf die von den Parteien vorgebrachte Auslegung von Ansprüchen beschränkt ist, sondern auch ihre eigene Auslegung vornehmen kann. Schriftliche Beweismittel sind keine Voraussetzung für eine solche Auslegung durch die Beschwerdekammer. Beweismittel können in diesem Zusammenhang nur verwendet werden, um Tatsachen zu belegen – beispielsweise wie der Fachmann einen bestimmten technischen Begriff in einem bestimmten Dokument des Stands der Technik zu einem bestimmten Zeitpunkt verstanden hat – nicht jedoch, um ultimativ festzustellen, ob eine bestimmte Auslegung der Ansprüche richtig ist oder nicht.
Siehe auch Kapitel I.C.8.1.3c) "Auslegung von Verfahrensansprüchen".
- T 566/20
Zusammenfassung
In T 566/20 the parties disagreed on the interpretation of the feature "the position information in association with the serial number information output from the position control device".
The appellant (opponent) submitted that the position control device could output the serial number information, possibly with the position information. In their opinion, this interpretation was grammatically correct, made technical sense and was not disclosed in the application as originally filed.
In the respondent's view, it was apparent from the claim that the output from the position control device concerned the position information in association with the serial number information. The respondent also noted that this interpretation was in accordance with the disclosure of the application as filed.
The board concurred with the appellant that outputting both the position information and the associated serial number information from the position control device was technically sensible. It further agreed with the appellant that the fact that the claim did not include a step of receiving serial number information did not necessarily mean that the position control device did not receive this information. Outputting both the position information and the serial number information allowed the vision measuring system to match position information with image information by unambiguously correlating serial number information associated with, or included in, each of them. This interpretation did not appear to give rise to incompatibilities with the remaining features of the claim.
Moreover, the board endorsed the view that a patent proprietor would be awarded an unwarranted advantage if it were allowed to restrict the claimed subject-matter by discarding at will technically reasonable interpretations in view of the description (see T 1127/16 and T 169/20). Therefore, the fact that the description and drawings support one interpretation of an ambiguous feature was not sufficient for other interpretations of the ambiguous feature that are technically reasonable in the context of the claim to be discarded.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache