4.2.1 Erste Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Vorbringens im Sinne von Artikel 12 (4) VOBK 2020
(i) Anträge
In J 3/20 hielt der Beschwerdeführer (Anmelder) in seiner Beschwerdebegründung erstmals Vorbringen betreffend R. 139 EPÜ (Benennung vorgeblich im Stammverfahren irrtümlicherweise zurückgenommen, bevor die Teilanmeldung, um die es im vorliegenden Verfahren geht, eingereicht wurde). Die Juristische Beschwerdekammer stellte fest, dass er im erstinstanzlichen Verfahren nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben hatte, dass der Vertreter die betreffende Benennung in der Stammanmeldung entgegen der wahren Absicht des Anmelders zurückgenommen hatte, und dass er auch keine Berichtigung der Rücknahme beantragt hatte, obwohl dem Anmelder zu diesem Zeitpunkt die entsprechenden Tatsachen bereits bekannt waren und er sie hätte vorlegen können und müssen. Somit legte der Beschwerdeführer ein vollkommen neues Vorbringen erstmals im Beschwerdeverfahren vor.
In T 1421/20 waren die strittigen Hilfsanträge (0a, 0b und 0c), die zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereicht wurden, nicht Teil des Verfahrens vor der Prüfungsabteilung. Die Kammer betrachtete sie als Änderungen des Vorbringens des Beschwerdeführers (Anmelders), deren Zulassung im Ermessen der Kammer lag (Art. 12 (2) und (4) VOBK 2020).
(ii) Einwände und Beweismittel
In der Sache T 28/20 ging ein in der Beschwerdebegründung gegen den Hilfsantrag 1 erhobener Einwand zur erfinderischen Tätigkeit von einem nächstliegenden Stand der Technik (D4) aus, der sich von dem im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren (gegen diesen Antrag) herangezogenen nächstliegenden Stand der Technik (D9) unterschied. Die Kammer befand, dass dieser neue Einwand eine Änderung des Vorbringens des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 12 (4) VOBK 2020 darstellte, da er nicht auf einen Einwand gerichtet war, der der angefochtenen Entscheidung zugrunde lag (Art. 12 (2) VOBK 2020). Da der Beschwerdeführer nicht erläutert hatte, warum dieser Einwand erstmals im Beschwerdeverfahren erhoben wurde, machte die Kammer von ihrem Ermessen nach Art. 12 (4) VOBK 2020 Gebrauch, den neuen Einwand nicht zuzulassen.
Ein weiteres Beispiel, bei dem die in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwände nicht die Erfordernisse von Art. 12 (2) VOBK 2020 erfüllten und von der Kammer in Ausübung ihres Ermessens (Art. 12 (4) VOBK 2020 und Art. 12 (6) Satz 2 VOBK 2020) nicht zugelassen wurden, ist T 81/20.
- T 1135/22
Zusammenfassung
In T 1135/22 reichte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) Hilfsanträge 1 bis 12 mit der Beschwerdeerwiderung ein. Zuvor hatte sie diese Hilfsanträge bereits im Einspruchsverfahren innerhalb der Schriftsatzfrist nach R. 116 (1) und (2) EPÜ eingereicht. Die Hilfsanträge mussten jedoch von der Einspruchsabteilung nicht behandelt werden, da das Streitpatent wie erteilt aufrechterhalten wurde (sog. "carry-over requests").
Die Patentinhaberin brachte hierzu vor, dass Hilfsanträge 1 bis 12 automatisch Bestandteil des Beschwerdeverfahrens seien, da sie im Sinne von Art. 12 (2) VOBK bereits der angefochtenen Entscheidung "zugrunde gelegen" hätten. Dies sei auch der angefochtenen Entscheidung explizit zu entnehmen, weil deren Einreichung und Erörterung durch die Patentinhaberin im Teil "Sachverhalt und Anträge" der angefochtenen Entscheidung erwähnt werde. Somit seien diese Hilfsanträge keine "Änderung" im Sinne von Art. 12 (4) Satz 1 VOBK.
Die Kammer teilte diese Ansicht nicht. Die bloße Erwähnung von Hilfsanträgen im Teil "Sachverhalt und Anträge" könne nicht damit gleichgesetzt werden, dass sie im Sinne von Art. 12 (2) VOBK der angefochtenen Entscheidung "zugrunde lagen". Anderenfalls wäre der Passus von Art. 12 (4) Satz 1 VOBK "sofern der Beteiligte nicht zeigt, dass dieser Teil in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten wurde" belanglos. Es entspreche vielmehr sowohl Sinn und Zweck von Art. 12 (2) VOBK als auch der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe z. B. T 42/20, T 221/20, T 1800/20, T 364/20), dass Änderungsanträge nur dann der angefochtenen Entscheidung "zugrunde liegen", wenn das Entscheidungsorgan diese Anträge auch behandelt und darüber entschieden hat.
Ferner erläuterte die Kammer, es ergebe sich aus dem Wortlaut von Art. 12 (4) VOBK, dass die Kammer, bei der Prüfung der Frage, ob sie über einen Ermessensspielraum bei der Berücksichtigung von sog. "carry-over requests" verfügt, zwei Aspekte zu untersuchen habe: Zunächst ob der Beteiligte "gezeigt" hat, wie und warum die betreffenden Anträge im erstinstanzlichen Verfahren "in zulässiger Weise vorgebracht und aufrechterhalten" wurden; dann, wenn ein solcher Vortrag vorliegt, ob das betreffende Vorbringen sachlich zutreffend ist.
Zum ersten Aspekt verwies die Kammer auf T 246/22, wo sie in anderer Besetzung ausgeführt hatte, dass – wie aus dem Wortlaut von Art. 12 (4) VOBK klar hervorgehe – der Gesetzgeber den Kammern keine Verpflichtungen auferlegen wollte, von Amts wegen das erstinstanzliche Verfahren zu studieren, Anträge zu identifizieren und bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen und zu verstehen, warum sie eingereicht wurden. Vielmehr obliege es dem betreffenden Verfahrensbeteiligten, darzulegen, dass diese Anträge "in zulässiger Weise vorgebracht" wurden. Dass diese Darlegung bereits in der Beschwerdebegründung oder -erwiderung erfolgen müsse, ergebe sich aus dem Erfordernis des Art. 12 (3) Satz 1 VOBK.
Nach Auffassung der Kammer war die Patentinhaberin im vorliegenden Fall dieser Darlegungslast nicht nachgekommen. Den Verweis auf den Umstand, dass die Anträge innerhalb der erstinstanzlichen Schriftsatzfrist gemäß R. 116 (1) und (2) EPÜ eingereicht worden waren, hielt die Kammer nicht für ausreichend, da auch solche Anträge nach der Rechtsprechung "verspätet" sein könnten (s. z. B. T 364/20). Auch hatte die Patentinhaberin in ihrer Beschwerdeerwiderung nur die jeweilige Basis für die vorgenommenen Änderungen angegeben und kursorisch erwähnt, dass die hinzugefügten Merkmale im Stand der Technik nicht offenbart seien, nicht aber ausgeführt, ob die Anträge in zulässiger Weise erstinstanzlich vorgebracht wurden.
Die Kammer kam daher zu dem Schluss, dass die Zulassung dieser Änderung des Beteiligtenvorbringens in ihrem Ermessen stand. Bei der Ausübung dieses Ermessens berücksichtigte die Kammer zum einen, dass die Erfordernisse der Art. 56, 83, 84 und 123 (2) EPÜ der prima facie Gewährbarkeit nicht zwingend entgegenstanden, zum anderen die in Art. 12 (4) Satz 5 VOBK genannten Kriterien, und ließ den Hilfsantrag 6 ins Beschwerdeverfahren zu.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”