2.1. Regel 28 EPÜ
Nach R. 28 c) EPÜ (R. 23d c) EPÜ 1973) werden europäische Patente nicht erteilt für biotechnologische Erfindungen, die "die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" zum Gegenstand haben. Der Wortlaut "Verwendung zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" in R. 28 c) EPÜ umfasst auch dann die Herstellung des beanspruchten Erzeugnisses, wenn beabsichtigt wird, dieses Erzeugnis für weitere Forschungen zu nutzen (G 2/06).
In G 2/06 befasste sich die Große Kammer mit einer beanspruchten Erfindung, die u.a. menschliche embryonale Stammzellkulturen zum Gegenstand hatte, die zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung der menschlichen Embryonen einherging, aus denen sie gewonnen wurden, wobei dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche war.
Bei der Auslegung der R. 28 c) EPÜ wandte sich die Große Kammer auch Art. 6 (2) der Biotechnologierichtlinie zu, da es das Ziel der Aufnahme der R. 26-29 EPÜ war, das EPÜ an die Richtlinie anzugleichen. Sie bemerkte, dass weder der EU-Gesetzgeber noch der EPÜ Gesetzgeber, im Gegensatz zum deutschen oder britischen Recht, den Begriff "Embryo" definiert hat. Sie nahm an, dass die Gesetzgeber die Definitionen in den nationalen Embryonenschutzgesetzen kannten und bewusst von einer Definition absahen. Vor dem Hintergrund, dass die Menschenwürde geschützt und die gewerbliche Verwendung von Embryonen verhindert werden sollte, konnte die Große Kammer nur vermuten, dass dem Begriff "Embryo" keine restriktive Bedeutung gegeben werden sollte. Sie lehnte daher das Argument des Beschwerdeführers ab, dass mit "Embryo" etwas ganz Bestimmtes, nämlich nach medizinischem Sprachgebrauch ein Embryo ab einem Alter von 14 Tagen gemeint sei.
Der Beschwerdeführer argumentierte, dass die Verwendung menschlicher Embryonen beansprucht werden müsse, damit das Verbot nach R. 28 c) EPÜ greife. Die Große Beschwerdekammer folgte dieser Argumentation nicht und hob hervor, dass in R. 28 c) EPÜ Ansprüche nicht erwähnt werden, sondern auf "Erfindung" im Kontext ihrer Verwertung Bezug genommen wird. Was es zu beachten gilt, ist nicht nur der explizite Wortlaut der Ansprüche, sondern die gesamte technische Lehre der Anmeldung im Hinblick darauf, wie die Erfindung auszuführen ist. Die zweite Vorlagefrage beantwortete die Große Kammer demnach wie folgt: R. 28 c) EPÜ verbietet die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse, die – wie in der Anmeldung beschrieben – zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung der menschlichen Embryonen einhergeht, aus denen die Erzeugnisse gewonnen werden, selbst wenn dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche ist.
In T 522/04 war der angegriffene Anspruch auf ein Verfahren zur In-vitro-Vermehrung einer klonalen Population von Neuralleisten-Stammzellen mit Säugetierursprung gerichtet. Dies schloss eindeutig Zellen menschlichen Ursprungs ein. Da die einzige Lehre, wie menschliche Neuralleisten-Stammzellkulturen herzustellen sind, in der Verwendung (und damit der Zerstörung) menschlicher Embryonen bestand, schloss die Kammer, dass zum Anmeldezeitpunkt menschliche Neuralleisten-Stammzellen ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergeht, sodass die Erfindung unausweichlich unter das Verbot nach Art. 53 a) EPÜ in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ fällt.
In T 2221/10 betrafen die Ansprüche 1 und 2 des einzigen Antrags des Beschwerdeführers Verfahren zur Erhaltung von menschlichen embryonalen Stammzellen (hES-Zellen) in Kultur in einem undifferenzierten Stadium. Anspruch 5 betraf eine hES-Zellen umfassende Zellkultur. Der Beschwerdeführer hatte argumentiert, dass Verfahren, bei denen kommerziell oder anderweitig öffentlich zugängliche hES-Zelllinien verwendet würden, nicht unter das Patentierbarkeitsverbot fielen, weil zur Durchführung dieser Verfahren nicht eigens neue menschliche Embryonen zerstört werden müssten.
Die Kammer war anderer Ansicht. Sie verwies auf G 2/06, wonach alle der beanspruchten Verwendung der hES-Zellen vorausgehenden Schritte in Betracht zu ziehen seien, die eine zwingende Voraussetzung für die Ausführung der beanspruchten Erfindung seien. Die Große Beschwerdekammer habe hier keinen Unterschied zwischen den vom Erfinder und den von einer anderen Person ausgeführten Schritten gemacht und ebenso wenig zwischen Schritten, die in unmittelbarer Vorbereitung der zu einer Erfindung führenden Versuche stattgefunden hätten, und solchen, die mit einem größeren zeitlichen Abstand zu diesen Versuchen stattgefunden hätten. Die Kammer entschied daher, dass Erfindungen, bei denen durch eine eigens dafür vorgenommene Zerstörung menschlicher Embryonen gewonnene hES-Zellen verwendet werden oder öffentlich zugängliche hES-Zelllinien, die ursprünglich in einem Verfahren gewonnen wurden, das zur Zerstörung der menschlichen Embryonen führte, nach Art. 53 a) EPÜ in Verbindung mit R. 28 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgenommen sind. Sie verwies zudem darauf, dass ihre Entscheidung in Einklang mit dem EuGH-Urteil C-34/10 stehe.
In T 1441/13 war Anspruch 1 des Hauptantrags auf ein Verfahren zur Gewinnung von Polypeptidsezernierenden Zellen gerichtet. Bei diesem Verfahren wurde eine Kultur von pluripotenten Primatenstammzellen (pPS) verwendet, die laut der Beschreibung in der Anmeldung auch humane embryonale Stammzellen (hES) umfasste. Die Kammer stellte fest, dass das bekannte und praktizierte Verfahren zur Gewinnung von hES-Zellkulturen – dem Ausgangsmaterial für das Verfahren nach Anspruch 1 – zum für das Streitpatent maßgeblichen Zeitpunkt vorgelagerte Schritte einschloss, die mit der Zerstörung von menschlichen Embryonen einhergingen. Der Hauptantrag ist daher nach Art. 53 a) EPÜ und R. 28 c) EPÜ nicht gewährbar.