4.3.2 Offenkundige Vorbenutzung
Das "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" kann nur dann als Kriterium angewandt werden, wenn Patentinhaber wie Einsprechender gleichermaßen Zugang zu dem Material hatten, dessen offenkundige Vorbenutzung behauptet wird (T 1776/14).
Das Abwägen der Wahrscheinlichkeit wird dann angewandt, wenn Patentinhaber wie Einsprechender gleichermaßen Zugang zu dem Material hatten, dessen offenkundige Vorbenutzung behauptet wird (s. z. B. T 363/96, T 12/00, T 1105/00, T 2043/07, T 1464/05, Nr. 4.3 der Gründe; T 202/13, Nr. 15.6.2 der Gründe; T 1170/13, Nr. 2.3 der Gründe). In der Sache T 1984/14 befand die Kammer, da nahezu alle Beweismittel der Verfügungsmacht des Patentinhabers unterlagen, dass der Grundsatz des Abwägens der Wahrscheinlichkeit nur auf die Beweismittel (Zeugenaussagen) für die öffentliche Zugänglichkeit von D28a (Software) anwendbar war.
In den folgenden Fällen wurde entschieden, dass die Beweismittel nicht im Einflussbereich des Einsprechenden lagen und daher als Beweisstandard das "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" Anwendung fand: T 918/11 (Verkauf von Behältern außerhalb des Einflussbereichs des Einsprechenden – Serienproduktion); T 55/01 (in Serienfertigung hergestellte Waren zum Verkauf an Kunden angeboten); T 1170/13 (Umstände in Bezug auf Vorbenutzung zeigten, dass der Einsprechende nicht ohne Weiteres über alle nötigen Beweismittel verfügte); T 12/00 (in einem Fall, in dem Dritte beteiligt sind, konnten beide Parteien Beweise sammeln); T 1464/05 (keine Beziehung zwischen dem Einsprechenden und dem für die Vorbenutzung verantwortlichen Dritten – Verkauf zur Probe); T 64/13 (Vorbenutzung zwischen zwei Unternehmen, die dem Beschwerdegegner (Einsprechenden) zufolge keine gesellschaftliche Verbindung mit ihm haben – Vorbenutzung ursprünglich durch eine dritte Gesellschaft vor dem Deutschen Bundespatentgericht eingereicht).
Für ein Massenprodukt braucht nicht nachgewiesen zu werden, dass ein Verkauf stattgefunden hat, denn allein durch seine Verteilung auf dem Markt wird es öffentlich zugänglich (s. T 55/01, Nr. 4.1 der Gründe; diskutiert und zusammengefasst in T 2165/18).
In T 1505/16 (Schiebemechanismus für einen Fahrzeugsitz) war die Kammer – im Gegensatz zur Einspruchsabteilung, die sich für den Beweismaßstab der "mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" (bzw. der "vollen Überzeugung") entschieden hatte – der Auffassung, dass der ständigen Rechtsprechung zufolge (für die sie als Beispiel T 184/07 und T 55/01 anführte) in der Regel das "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" als Beweismaßstab angewendet wird, um eine angebliche Vorbenutzung eines in Massenfertigung hergestellten Verbrauchsguts zu beurteilen.
Auch in T 563/18 fand die Kammer den von der Einspruchsabteilung angelegten strengeren Beweismaßstab unangemessen. Während das konkrete vorbenutzte Fahrzeug tatsächlich im Einflussbereich des Einsprechenden lag, war der vorbenutzte Turbolader im Golf IV verbaut, einem 2003 in Massenfertigung hergestellten und verkauften Fahrzeug.
In T 473/13 erfolgte die angebliche öffentliche Vorbenutzung durch den Beschwerdegegner und Patentinhaber, der zunächst eine Geheimhaltungsvereinbarung nachweisen musste (Beweislast). Die Kammer entschied, dass das vielzitierte Kriterium "lückenlos" im vorliegenden Fall keine Anwendung findet, weil die einschlägige Rechtsprechung für den Fall entwickelt wurde, dass die Vorbenutzung durch den Einsprechenden erfolgt ist; die vorliegende Sache war aber anders gelagert.
In T 12/00, T 254/98 und T 729/91 war der Einsprechende, der die öffentliche Vorbenutzung behauptete, nicht an den zugehörigen Umständen beteiligt (T 202/13).
In der Sache T 734/18 hatte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) die Kammer ersucht, einen anderen Beweismaßstab als die Einspruchsabteilung ("mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" statt "Abwägung der Wahrscheinlichkeit") anzuwenden, da seiner Ansicht nach das Unternehmen E, ein unabhängiger Hersteller von Kaffeemaschinen mit Geschäftsbeziehungen zum Einsprechenden wie zum Patentinhaber, den Einsprechenden 1 beim Nachweis der Vorbenutzung unterstützt hatte (Zeuge aus dem Unternehmen E). Dem kam die Kammer nicht nach, sondern erklärte, dass normalerweise jeder Einsprechende, der eine Vorbenutzung nachweisen will, für die sich die Beweismittel in den Händen eines Dritten befinden, mit diesem Dritten in gewisser Weise zusammenarbeiten muss. Bei dem zweiten vorgebrachten Argument (Unternehmen E und der Einsprechende verletzten gemeinsam das Streitpatent) handelte es sich um eine unvollständige Sammlung von Vorwürfen der Patentverletzung und einschlägigen Beweismitteln, die keine Schlüsse zuließen. Folglich kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer (Patentinhaber) sein Vorbringen nicht derart substanziiert hatte, dass sie die Position des Unternehmens E anders eingeschätzt hätte als die Einspruchsabteilung, nämlich als die eines unabhängigen Herstellers außerhalb des Einflussbereichs des Beschwerdeführers (Einsprechenden 1).