6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
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Die Kammern haben in einer Vielzahl von Entscheidungen (s. dieses Kapitel II.A.6.3.1) zur Auslegung der Ansprüche die Beschreibung und die Zeichnungen herangezogen, um festzustellen, ob die Ansprüche klar und knapp gefasst waren.
In T 456/91 befand die Kammer, dass die Deutlichkeit eines Anspruchs durch die bloße Breite eines darin enthaltenen Fachbegriffs nicht beeinträchtigt wird, sofern die Bedeutung eines solchen Begriffs für den Fachmann entweder von allein oder im Lichte der Beschreibung unmissverständlich ist. In der betreffenden Sache kamen extrem viele Stoffe für die Ausführung der Erfindung infrage. Betrachtete man die Ansprüche aber im Lichte der Beschreibung, so war klar, welche Peptide für die Erfindung geeignet waren.
Auch im Verfahren T 860/93 (ABl. 1995, 47) ging die Kammer davon aus, dass die Beschreibung herangezogen werden kann, um festzustellen, ob die Ansprüche klar sind. Die Kammer berief sich dabei auf das allgemeine Rechtsprinzip "Die beste Auslegung gewinnt man aus dem Vorangegangenen und dem Folgenden". Sie akzeptierte die Argumentation in T 454/89 (s. unten), dass die Beschreibung nur für die Bestimmung des Schutzbereichs, nicht jedoch zur Feststellung der Klarheit herangezogen werden dürfe, nur für den Fall von in sich widersprüchlichen Ansprüchen, aber nicht im Allgemeinen (s. auch T 884/93, T 287/97). In mehreren Entscheidungen wiesen die Kammern darauf hin, dass ein Patent sein eigenes Wörterbuch darstellen kann (s. dieses Kapitel II.A.6.3.3).
In einer Reihe von Entscheidungen wird jedoch auf die Grenzen der Heranziehung von Beschreibung und Zeichnungen bei der Prüfung des Klarheitserfordernisses hingewiesen.
In T 2/80 (ABl. 1981, 431) betonte die Kammer, dass ein Anspruch das von Art. 84 EPÜ 1973 vorgesehene Erfordernis der Klarheit nicht erfüllt, wenn er in sich nicht widerspruchsfrei ist. Die Patentansprüche sollen ohne Hinzuziehung der Beschreibung verstanden werden können (s. auch T 412/03, T 129/13). In T 454/89 bestätigte die Kammer diese Meinung und erklärte, Art. 84 EPÜ 1973 schreibe vor, dass die Ansprüche in sich deutlich sein müssten, wenn sie mit normalem Sachverstand betrachtet würden; dieser schließe die Kenntnis des Stands der Technik, nicht jedoch die der Beschreibung der Patentanmeldung oder des geänderten Patents entnommenen Informationen ein. Zwar sei es nach Art. 69 EPÜ 1973 zulässig, die Beschreibung zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen. Dies beziehe sich jedoch nur auf die Bestimmung des Schutzbereichs – insbesondere gegenüber Dritten – als eine der Wirkungen der Anmeldung oder des Patents und nicht auf die in Art. 84 EPÜ 1973 geforderte Angabe des Gegenstands, der durch den Anspruch geschützt werden solle. Im Prüfungs- oder Einspruchsverfahren könne sich daher der Anmelder oder Patentinhaber bei einer zur Klarstellung erforderlichen Änderung nicht hilfsweise auf Art. 69 EPÜ 1973 berufen. Diese Auffassung wurde in T 760/90 bestätigt.
In T 1129/97 (ABl. 2001, 273) stellte die Kammer fest, dass die bloße Tatsache, dass die genaue Bedeutung eines unklaren Begriffs ("niedriger Alkyl") in der Beschreibung ausdrücklich offenbart wird, nicht aber in den Ansprüchen, für sich genommen nicht ausreicht, damit die Ansprüche dem Erfordernis der Klarheit genügen. Das in Art. 84 EPÜ 1973 aufgestellte Erfordernis der Klarheit beziehe sich nämlich nur auf die Ansprüche. Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA müssten die Ansprüche daher in sich klar sein, ohne dass es für den Fachmann erforderlich sei, die Beschreibung des betreffenden Patents heranzuziehen. Zwar sei die Beschreibung gemäß Art. 69 (1) EPÜ 1973 zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen. In Art. 69 EPÜ 1973 gehe es jedoch nur insoweit um den Umfang des verliehenen Schutzes, als es diesen Schutzumfang insbesondere Dritten gegenüber zu bestimmen gelte, und nicht wie in Art. 84 EPÜ 1973 um die Bestimmung des Gegenstands, der mit einem Anspruch geschützt werden solle. Bestätigt in T 64/03, T 56/04, T 1265/13.
In T 49/99 stellte die Kammer fest, dass Deutlichkeit ein Erfordernis sei, dem die Ansprüche genügen müssten, und dass mangelnde Deutlichkeit im Wortlaut eines Anspruchs somit nicht dadurch wettgemacht werden könne, dass sich der technische Gegenstand, der in dem Anspruch eigentlich definiert werden sollte, dem Leser möglicherweise bei Hinzuziehung der Beschreibung und der Zeichnungen erschließe. S. auch T 623/13.
In T 56/04 betonte die Kammer, dass ein Anspruch, der ein unklares technisches Merkmal enthalte, verhindere, dass der darunter fallende Gegenstand zweifelsfrei erkannt werden könne. Dies gelte erst recht, wenn das unklare Merkmal den beanspruchten Gegenstand vom Stand der Technik abgrenzen solle. Die Kammer vertrat daher die Auffassung, dass ein im Anspruch verwendeter vager oder unklarer Begriff, dessen genaue Definition nur in der Beschreibung zu finden ist, nur in Ausnahmefällen zugelassen werden kann, um den beanspruchten Gegenstand vom Stand der Technik abzugrenzen. In entsprechender Anwendung von R. 29 (6) EPÜ 1973 (R. 43 (6) EPÜ) liegt ein solcher Ausnahmefall vor, wenn sich die genaue Definition des vagen oder unklaren Begriffs – aus welchen Gründen auch immer – nicht in den Anspruch aufnehmen lässt, aber für den Fachmann aus der Beschreibung eindeutig und unmittelbar ersichtlich ist. In dem T 56/04 zugrunde liegenden Fall verneinte die Kammer das Vorliegen eines Ausnahmefalles. Die in der Beschreibung offenbarte konkrete Angabe "etwa 1 mm" hätte statt des Begriffs "geringfügig kleiner als [...]" in den Anspruch selbst aufgenommen werden können. S. auch T 623/13.
Zur Frage, inwieweit bei der Charakterisierung eines Erzeugnisses durch Parameter aus dem Anspruch selbst hervorgehen muss, wie die Parameter zu bestimmen sind, s. dieses Kapitel II.A.3.5. In mehreren Entscheidungen wird betont, dass die Ansprüche in sich deutlich sein müssen, wenn sie mit normalem Sachverstand gelesen werden, jedoch ohne Kenntnis von Informationen, die der Beschreibung zu entnehmen sind (s. z. B. T 412/02 und T 908/04). In T 992/02 hielt es die Kammer jedoch angesichts des Erfordernisses der Knappheit nach Art. 84 EPÜ für gerechtfertigt, das Verfahren zur Messung des Parameters nicht in den Anspruch aufzunehmen, weil das Verfahren in der Beschreibung deutlich dargelegt sei und keinerlei Unklarheit bestehe.
In T 2968/19 betonte die Kammer, dass im Prüfungsverfahren – im Gegensatz zur Auslegung erteilter Patentansprüche – zunächst dem Grundsatz genüge zu tun sei, dass die fehlenden wesentlichen Merkmale in den Anspruch aufzunehmen sind und die Bedeutung der Merkmale für die Fachperson aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgehen sollte (vgl. G 1/04, Nr. 6.2 der Gründe). Der Beschwerdeführer brachte vor, ein Rückgriff auf die Beschreibung im Sinne eines eigenen Wörterbuchs könne zur Auslegung der Ansprüche eines Patents im Einspruchsverfahren zulässig sein, wenn Merkmale einem Einwand unter Art. 84 EPÜ nicht mehr zugänglich sind, jedoch trotzdem ausgelegt werden müssen. Der Kammer zufolge sind jedoch einem solchen Rückgriff bei der Anspruchsauslegung Grenzen gesetzt (vgl. "primacy of the claim" in T 1473/19, T 169/20), insbesondere in der Weise, dass im Anspruch fehlende (und nicht aus dem fachgerechten Verständnis der im Anspruch verwendeten Begrifflichkeiten implizit definierte) Merkmale nicht in den Anspruch hineinzulesen sind.