4. Bedeutung von nationalen Entscheidungen für die Rechtsprechung der Beschwerdekammern
In G 2/02 und G 3/02 (ABl. 2004, 483) hält die Große Beschwerdekammer fest, dass entsprechend dem in der Präambel des EPÜ dargelegten Ziel des Übereinkommens, die Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten auf dem Gebiet des Schutzes der Erfindungen zu verstärken, stets das Bestreben herrschte, das in den Vertragsstaaten und im EPA angewandte materielle Patentrecht zu harmonisieren.
In G 1/83 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass bei der Auslegung internationaler Verträge, durch die Rechte und Pflichten natürlicher oder juristischer Personen begründet werden, auch die Frage der Harmonisierung nationaler und internationaler Vorschriften in Betracht gezogen werden muss. Dieser Auslegungsgesichtspunkt, der im Wiener Übereinkommen nicht behandelt wird, ist dann von besonderer Bedeutung, wenn Bestimmungen eines internationalen Vertrags, wie es im europäischen Patentrecht der Fall ist, in nationale Gesetzgebungen übernommen wurden. Zur Schaffung eines harmonisierten Patentrechts in den Vertragsstaaten ist eine harmonisierte Auslegung notwendig. Deshalb muss auch das Europäische Patentamt, insbesondere seine Beschwerdeinstanz, die Rechtsprechung und die Rechtsauffassungen der Gerichte und Patentämter in den Vertragsstaaten in Betracht ziehen.
In T 154/04 (ABl. 2008, 46) stellte die Kammer fest, dass solche Betrachtungen eine Beschwerdekammer in Verfahren vor dem Europäischen Patentamt aber nicht von der ihr als unabhängigem Gerichtsorgan obliegenden Pflicht befreien, das EPÜ auszulegen und anzuwenden und in letzter Instanz über Fragen der Patenterteilung zu entscheiden. Außerdem ist selbst bei harmonisierten Rechtsvorschriften nicht davon auszugehen, dass diese Vorschriften von verschiedenen Gerichten ein und desselben Staates, geschweige denn von den Gerichten verschiedener Vertragsstaaten auch einheitlich ausgelegt werden, sodass die Beschwerdekammern vor der Wahl stünden, welcher Auslegung sie denn folgen sollten, wenn sie sich nicht ihr eigenes unabhängiges Urteil bilden würden.
In J 14/19 stellte die Kammer fest, dass von R. 14 (1) EPÜ nicht bestimmt wird, zu welchem Zeitpunkt ein nationales Verfahren als eingeleitet gilt. Auch an anderer Stelle enthält das EPÜ keine autonome Definition der Rechtshängigkeit nationaler Gerichtsverfahren. Die Frage des Zeitpunkts der Rechtshängigkeit ist daher nach dem Verfahrensrecht jenes Staates zu beurteilen, dessen Gerichte zum Treffen einer Entscheidung im Sinne des Art. 61 (1) EPÜ angerufen wurden (s. J 7/00, J 2/14; vgl. auch T 1138/11). Art. 8 des Anerkennungsprotokolls stütze dieses Auslegungsergebnis. Im Sinne eines einheitlichen europäischen Rechtsverständnisses kann in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 21 EuGVÜ - der Art. 8 des Anerkennungsprotokolls inhaltlich entspricht und diesem zeitlich vorausgeht - unterstützend herangezogen werden. Auch diesbezüglich ist der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit für jedes Gericht nach seinem jeweiligen nationalen Verfahrensrecht zu beurteilen (EuGH, Rs. 129/83).