5. Verbot der Doppelpatentierung
Dieses Kapitel befasst sich in erster Linie mit der Doppelpatentierung infolge der Einreichung einer Teilanmeldung, aber behandelt auch Fragen, die sich in im Zusammenhang mit anderen Verfahrenssituationen ergeben können.
In G 4/19 (ABl. 2022, A24) machte sich die Große Beschwerdekammer die von der vorlegenden Kammer getroffene enge Auslegung des Begriffs "Doppelpatentierung" (T 318/14 date: 2019-02-07, ABl. 2020, A104, Nrn. 17 bis 23 der Gründe) zu eigen. Zu Doppelpatentierung in diesem engeren Sinne kann es kommen, wenn zwei oder mehr europäische Patentanmeldungen mit sich überschneidendem territorialem Schutzumfang, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und dasselbe wirksame Datum haben, vom selben Anmelder eingereicht werden. Da solche Anmeldungen nicht zum Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) oder (3) EPÜ gehören, könnte ihre Weiterverfolgung dazu führen, dass derselbe Anmelder zwei oder mehr Patente erteilt bekommt, die auf denselben Gegenstand gerichtet sind und deren territorialer Schutzumfang identisch ist oder sich zumindest überschneidet. Es gibt drei Situationen, in denen solche europäischen Patentanmeldungen dasselbe wirksame Datum haben könnten: i) eine europäische Patentanmeldung wird am selben Tag wie eine andere europäische Patentanmeldung desselben Anmelders eingereicht (parallele Einreichungen); ii) eine europäische Patentanmeldung wird als europäische Teilanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) zu einer früheren europäischen Patentanmeldung eingereicht (Teilanmeldung); iii) es wird eine europäische Patentanmeldung eingereicht, die die Priorität (Art. 88 EPÜ) einer früheren europäischen Patentanmeldung beansprucht (innere Priorität), oder beide beanspruchen die Priorität derselben nationalen Anmeldung (s. G 4/19, Nr. 9 der Gründe).
In Anbetracht der divergierenden Rechtsprechung über die Rechtsgrundlage für das Verbot der Doppelpatentierung und die bestehenden Zweifel, ob das EPÜ überhaupt eine Vorschrift enthält, die als Grundlage für das Verbot herangezogen werden könnte, befasste die Kammer in T 318/14 date: 2019-02-07 die Große Beschwerdekammer nach Art. 112 (1) a) EPÜ mit Rechtsfragen in Bezug auf die Rechtsgrundlage für das Doppelpatentierungsverbot und die entsprechenden Bedingungen für eine Zurückweisung auf dieser Grundlage.
In G 4/19 entschied die Große Beschwerdekammer, dass eine europäische Patentanmeldung nach Art. 97 (2) und Art. 125 EPÜ zurückgewiesen werden kann, wenn sie denselben Gegenstand beansprucht wie ein demselben Anmelder erteiltes europäisches Patent, das nicht zum Stand der Technik nach Art. 54 (2) und (3) EPÜ gehört. Die Anmeldung kann auf dieser Rechtsgrundlage zurückgewiesen werden, unabhängig davon, ob sie a) am Anmeldetag eingereicht worden ist oder b) als frühere Anmeldung oder Teilanmeldung (Art. 76 (1) EPÜ) zu der europäischen Patentanmeldung, die zu dem bereits erteilten europäischen Patent geführt hat oder c) unter Inanspruchnahme der Priorität (Art. 88 EPÜ) der europäischen Patentanmeldung (zu Einzelheiten s. Kapitel II.F.5.2).
Die Technischen Beschwerdekammern haben sich mehrfach mit dem Begriff "desselben Gegenstands" auseinandergesetzt. Nach der ständigen Rechtsprechung steht eine bloße (teilweise) Überschneidung der Erteilung eines Patents nicht entgegen (T 587/98, ABl. 2000, 497; T 877/06; T 1491/06; T 1391/07; T 2402/10; T 2461/10; T 1780/12; T 621/15, T 1252/16; anders in T 307/03), s. dieses Kapitel II.F.5.3. unten. Zur Relevanz des Schutzumfangs für die Frage der Doppelpatentierung s. z. B. T 1780/12 und T 2563/11.