5.3. Mehrfachprioritäten oder Teilpriorität für einen Patentanspruch
In T 260/14 hatte die Einspruchsabteilung die Priorität verneint und befunden, dass Anspruch 1 angesichts eines im Prioritätsdokument (D5) selbst und in der Beschreibung des Streitpatents offenbarten Ausführungsbeispiels gemäß Art. 54 (3) EPÜ nicht neu war. (D5 war als ein Fall "toxischer Priorität" behandelt worden.) Gemäß G 1/15 (ABl. 2017, A82) bestimmte die Kammer zunächst als im Prioritätsdokument offenbarten relevanten Gegenstand das Ausführungsbeispiel (vgl. G 2/98, ABl. 2001, 413). Sie prüfte dann, ob der Anspruch 1 das Ausführungsbeispiel umfasste, und, ob dieses Beispiel aufgrund eines generischen "ODER"-Anspruchs einen alternativen Gegenstand darstellte, indem sie den Umfang des Anspruchs mit dem Inhalt des Prioritätsdokuments verglich. Der Anspruch betraf ein dentales Abformmaterial, das eine Basispaste und eine Katalysatorpaste umfasste. Beide Pasten wurden mithilfe generischer Merkmale wie "Polyether" und "Copolyether von Ethylenoxid" beschrieben. Bei dem Ausführungsbeispiel handelte es sich um eine spezifische Ausführungsform des Anspruchs. Mehrere alternative Ausführungsbeispiele wären möglich gewesen, wobei verschiedene Varianten unter die generischen Merkmale des Anspruchs gefallen wären. Das Beispiel stellte somit einen alternativen Gegenstand aufgrund eines generischen "ODER"-Anspruchs dar, der unter den Anspruch 1 fiel. Dem Teil des Anspruchs 1, der dieses Beispiel betraf, stand somit eine Teilpriorität zu.
Der Ansatz von G 1/15 wurde ferner in folgenden weiteren Entscheidungen angewandt: T 1526/12 (Haarpflegezusammensetzung), T 557/13 vom 28. Juli 2017 date: 2017-07-28 (Verwendung eines Kaltfließverbesserers), T 2466/13 (Isolierplatte), T 1399/13 (Polymerisations-verfahren), T 88/14 (fettarmes Konfekterzeugnis), T 1519/15 (Sensorschaltung umfassend Sensorkondensatoren, T 1728/16 (feste pharmazeutische Dosierungsform), T 401/19 (chromatografisches Reinigungsverfahren).
Nach Auffassung der Kammer in T 282/12 müssen die Grundsätze der Entscheidung G 1/15 (ABl. 2017, A82) aus Gründen der Einheitlichkeit auch bei der Feststellung Anwendung finden, ob eine Anmeldung, deren Priorität beansprucht wird, die erste Anmeldung im Sinne von Art. 87 (1) EPÜ ist (s. ausführliche Zusammenfassung dieses Aspekts der Entscheidung in Kapitel II.D.4.1. oben). Die Kammer warnte in diesem Zusammenhang auch davor, die Priorität mittels eines Tests nach Art. 123 (2) EPÜ zu beurteilen, ein Ansatz, der die Einspruchsabteilung zu der Feststellung verleitet habe, dass D1 die erste Anmeldung sei. Grundlage für die Beurteilung der Priorität und des Erfordernisses von Art. 123 (2) EPÜ sei jeweils das Offenbarungskonzept. Ein Test nach Art. 123 (2) EPÜ könne jedoch unter bestimmten Umständen zu falschen Schlussfolgerungen führen, denn es gebe kein Konzept einer "Teilgültigkeit" von Änderungen, wohl aber das einer "Teilpriorität". Im Hinblick auf die Faktenlage des Falls (Spaltbreite der beschichteten Tablette) teilte die Kammer die Ansicht, dass die Änderung eines Bereichs von 5 % bis 33 % (d. h. des Bereichs in Anspruch 1 und im Prioritätsdokument D1) in 3 % bis 33 % (d. h. den Bereich in der früheren Anmeldung D22 des Patentinhabers) zu einer Erweiterung des Gegenstands führen würde. Allerdings umfassten beide Bereiche einen identischen Teil, nämlich den Teilbereich 5 % bis 33 %, der alternative Dosierungsformen definiere, die ihre Identität nicht änderten, ob sie nun als solche oder als Teil einer größeren Gruppe von Zusammensetzungen beansprucht würden, einschließlich anderer Zusammensetzungen mit einer Spaltbreite, die außerhalb des Bereichs 5 % bis 33 % liege. Daher lasse die bloße Durchführung eines Tests nach Art. 123 (2) EPÜ zur Beurteilung der Gültigkeit des Prioritätsanspruchs im vorliegenden Fall nicht die Schlussfolgerung zu, dass D1 und D22 teilweise dieselbe Erfindung beträfen und damit die Priorität nicht für den gesamten Umfang des Anspruchs 1 gelte.
In der Sache T 437/14 date: 2019-03-12 erließ die Kammer am 12. März 2019 ihre endgültige Entscheidung, nachdem sie der Großen Beschwerdekammer Fragen zu nicht offenbarten Disclaimern vorgelegt hatte (G 1/16, ABl. 2018, A70; die Feststellungen der Kammer zu nicht offenbarten Disclaimern sind in Kapitel II.E.1.7.2 zusammengefasst). Der Einsprechende 3 hatte argumentiert, dass Anspruch 1 aufgrund der hinzugefügten Disclaimer keinen wirksamen Prioritätsanspruch genieße und sein Gegenstand nicht neu gegenüber D57 und D58 sei, zwei Teilanmeldungen, die auf die Anmeldung zurückgingen, auf der auch das Streitpatent basierte. Nach Auffassung der Kammer müssen dafür zwei Bedingungen erfüllt sein: mindestens eine Ausführungsform der Teilanmeldung(en) ist im Anspruch 1 enthalten und Anspruch 1 genießt kein Prioritätsrecht, auch kein teilweises Prioritätsrecht für die Teile, die sich auf diese Ausführungsformen beziehen. Mit Verweis auf G 1/03 (ABl. 2004, 413) befand die Kammer, dass die beiden Disclaimer keinen technischen Beitrag leisteten und den Erfordernissen des Art. 123 (2) EPÜ genügten. Sie kam deshalb zu dem Schluss, dass dem Gegenstand des Anspruchs 1 die Priorität der früheren Anmeldung zustand. Soweit in D57 und D58 spezifische Verbindungen offenbart waren, die unter den Anspruch 1 fielen und wirksam die Priorität der früheren Anmeldung beanspruchten, genoss der Anspruch 1 ein teilweises Prioritätsrecht aus der früheren Anmeldung für diese Verbindungen. Anspruch 1 war ein generischer "ODER"-Anspruch, der einen unmittelbar und eindeutig im Prioritätsdokument offenbarten alternativen Gegenstand umfasste und dem somit ein teilweises Prioritätsrecht für diesen alternativen Gegenstand im Sinne von G 1/15 zustand (ABl. 2017, A82). Somit bildeten D57 und D58 für die Beurteilung der Neuheit keinen Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ.
- T 1946/21
Catchword:
1. For the question of whether the applicant is "successor in title" within the meaning of Article 87(1) EPC, it is sufficient for the applicant or patent proprietor to demonstrate that the assignment of the priority right was effective before the subsequent application was filed. The law does not set forth any other condition. In particular, the assignment need not be effective before the filing date of the subsequent application. (see point 2.3). 2. In the context of in-person oral proceedings, a request of a party for a hybrid format to allow the representatives to attend the hearing in person and other attendees to attend remotely should normally be granted only if the participation of the person for whom the access by means of videoconferencing technology has been requested is related to a person whose participation in the oral proceedings is relevant to the case, in particular to the decision to be taken at the oral proceedings (see point 1.).
- T 88/21
Catchword:
In view of the principles of multiple priorities and partial priority: undisclosed disclaimer based on a disclosure in an earlier application by the same applicant not allowed.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”