3.4.1 Grundsätze zur Überprüfung erstinstanzlicher Ermessensentscheidungen
Nach ständiger Rechtsprechung ist es bei einer angefochtenen Ermessensentscheidung der ersten Instanz nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Ein erstinstanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessensentscheidungen zu treffen hat, muss bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Freiraum haben, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen. Eine Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher bzw. unangemessener Weise ausgeübt hat und damit ihr eingeräumtes Ermessen überschritten hat (s. dazu insbesondere G 7/93, ABl. 1994, 775 und T 640/91, ABl. 1994, 918, dort hatte die erste Instanz ihr Ermessen falsch ausgeübt. Die Kammer sah dies als einen wesentlichen Verfahrensmangel an).
Obwohl auch G 7/93 einen speziellen Umstand betraf, nämlich die Nichtzulassung von Änderungen nach der Mitteilung nach R. 51 (6) EPÜ 1973 durch die Prüfungsabteilung, werden die in der G 7/93 formulierten Prinzipien auch auf die Überprüfung anderer Ermessensentscheidungen der ersten Instanz durch die Beschwerdekammern bezogen (T 820/14, s. auch T 858/17). So gilt z. B. dieser Grundsatz auch im Zusammenhang mit der Zulassung verspäteten Vorbringens durch die Einspruchsabteilung (T 1209/05, T 1652/08, T 902/09, T 1253/09, T 544/12, T 1882/13).
In etlichen Entscheidungen, so z. B. in T 1614/07, T 849/08, T 1788/12, T 1643/11, T 89/15 wird zur korrekten Ermessensausübung der ersten Instanz auf beide oder eine der beiden Entscheidungen G 7/93 und T 640/91 verwiesen.
In T 820/14 wies die Kammer darauf hin, dass dementsprechend eine Beschwerdekammer, wenn die erste Instanz ihr Ermessen korrekt ausgeübt hat, diese Entscheidung in der Regel nicht aufheben sollte, um das eigene Ermessen an die Stelle des Ermessens der ersten Instanz zu setzen – ungeachtet der Frage, ob die Kammer schließlich das nicht zugelassene Vorbringen zulässt, die Nichtzulassungsentscheidung aus anderen Gründen bestätigt, oder der ersten Instanz durch Zurückverweisung Gelegenheit gibt, ihr Ermessen erneut auszuüben. Eine Verpflichtung der Kammer, eine korrekte Ermessensentscheidung der ersten Instanz aufrecht zu erhalten, kann aus G 7/93 jedoch nicht abgeleitet werden.