BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.4.1 vom 29. September 1993 - T 640/91 - 3.4.1
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. D. Paterson |
Mitglieder: | R. K. Shukla |
| U. G. O. M. Himmler |
Anmelder: Nippon CMK Corp.
Stichwort: Prüfungsverfahren/NIPPON
Artikel: 54, 56, 96, 113 (1) EPÜ
Schlagwort: "Stellungnahme des Anmelders zur Neuheit" - "unverzügliche Zurückweisung der Anmeldung aufgrund mangelnder Kooperationsbereitschaft und guten Willens des Anmelders" - "derartige Feststellung nicht gerechtfertigt" - "Notwendigkeit der Aufforderung zur Stellungnahme" - "willkürliche Ermessensausübung"
Leitsätze
I. Das Erfordernis in Artikel 96 (2) EPÜ, wonach die Prüfungsabteilung den Anmelder "so oft wie erforderlich" zur Einreichung einer Stellungnahme aufzufordern hat, impliziert, daß die Prüfungsabteilung unter bestimmten Umständen von Rechts wegen verpflichtet ist, den Anmelder vor Erlaß einer ihn beschwerenden Entscheidung zu weiteren Stellungnahmen aufzufordern.
II. Im Hinblick auf Artikel 113 (1) EPÜ besteht für die Prüfungsabteilung eine "notwendige" rechtliche Verpflichtung, den Anmelder zu weiteren Stellungnahmen aufzufordern, bevor sie eine ihn beschwerende Entscheidung trifft, in der das unverzügliche Ergehen dieser Entscheidung damit begründet wird, daß er in seiner früheren Stellungnahme mangelnden guten Willen habe erkennen lassen.
III. Eine Beschwerdekammer sollte sich nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz bei einer Entscheidung in einer bestimmten Sache ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluß gelangt, daß die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat.
IV. Grundsätzlich ist es nicht Aufgabe einer Prüfungsabteilung, den Grad der Kooperationsbereitschaft eines Anmelders oder seinen guten Willen zu beurteilen, wenn sie im Rahmen des ihr in Artikel 96 (2) EPÜ eingeräumten Ermessens entscheidet, ob sie ihn zu weiteren Stellungnahmen auffordert. Die Ausübung dieses Ermessens hängt in erster Linie davon ab, ob eine gewisse Aussicht besteht, daß die Anmeldung nach einer solchen Aufforderung erteilungsreif wird (im Anschluß an die Entscheidungen T 162/82, ABl. EPA 1987, 533 und T 84/82, ABl. EPA 1983, 451).
Sachverhalt und Anträge
I. Die vorliegende europäische Patentanmeldung wurde am 2. April 1988 eingereicht. Sie bezieht sich auf eine gedruckte Leiterplatte, die einen Film aufweist, der mindestens einen Teil der Oberfläche der Leiterbahnen bedeckt. Gegenstand der Erfindung ist die Verbesserung der Wärmeableitung während des Betriebs.
Anspruch 1 der Anmeldung lautet wie folgt:
"Gedruckte Leiterplatte, die auf mindestens einer Seite der Grundplatte Leiterbahnen aufweist, dadurch gekennzeichnet, daß ein abstrahlender Film mindestens einen Teil der Oberfläche der Leiterbahnen bedeckt".
II. Am 29. Oktober 1990 erließ die Prüfungsabteilung einen Bescheid, in dem unter anderem der Einwand erhoben wurde, Anspruch 1 sei gegenüber der Veröffentlichung
D1: New Electronics, Vol. 17, No. 13, Juni 1984, Seite 76
nicht neu.
Die Prüfungsabteilung vertrat die Auffassung, daß eine gedruckte Leiterplatte der in D 1 beschriebenen und abgebildeten Art definitionsgemäß auf mindestens einer Seite der Grundplatte Leiterbahnen aufweise.
Weitere Einwände wurden gegen die abhängigen Ansprüche 2 bis 9 erhoben, unter anderem wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit gegenüber der Druckschrift
D2: FR-A-2 480 488.
In dem Bescheid hieß es, es sei nicht erkennbar, welcher Teil der Anmeldung als Grundlage für einen neuen, gewährbaren Anspruch dienen könnte.
III. In einer Erwiderung vom 27. Februar 1991 wies der Anmelder alle Einwände gegen die Ansprüche zurück. Bezüglich des Anspruchs 1 wurde vorgebracht, die Entgegenhaltung D1 offenbare überhaupt keine Leiterbahnen, da sie weder entsprechende Abbildungen noch Beschreibungen enthalte; Abbildung 1 der Entgegenhaltung D1 zeige eine Grundplatte mit elektronischen Bauelementen, aber keine Leiterbahnen.
Das Argument, eine gedruckte Leiterplatte weise definitionsgemäß Leiterbahnen auf, sei für die Neuheitsprüfung irrelevant, da diese Definition in einem anderen Dokument stehe und bei der Beurteilung der Neuheit die Offenbarung einer Vorveröffentlichung für sich betrachtet werden müsse (s. Entscheidung T 153/85, ABl. EPA 1988, 1). Er beantragte die Gewährung der Ansprüche in der ursprünglich eingereichten Fassung.
IV. Mit Entscheidung vom 23. April 1991 wies die Prüfungsabteilung die Anmeldung aus den im Bescheid vom 29. Oktober 1990 dargelegten Gründen, namentlich wegen mangelnder Neuheit des Anspruchs 1, zurück.
Die Zurückweisung der Anmeldung nach Erlaß eines einzigen Bescheids wurde in der Entscheidung wie folgt begründet: "... das Vorbringen des Anmelders zur Art und Weise, wie die Neuheit zu beurteilen sei, und der Verweis auf die Entscheidung T 153/85 werden nicht nur als unangebracht betrachtet, sondern auch als ein Mangel an Kooperationsbereitschaft und gutem Willen seitens des Anmelders gewertet. Mangels ernstzunehmender Versuche, sich mit den Einwänden der Prüfungsabteilung auseinanderzusetzen, ist die Anmeldung unverzüglich zurückzuweisen: siehe Entscheidung T 84/82 (ABl. EPA 1983, 451)".
V. Der Anmelder legte Beschwerde ein. In der Beschwerdebegründung verwahrte er sich gegen den Vorwurf der Prüfungsabteilung, er habe es an der angemessenen Kooperationsbereitschaft und an gutem Willen fehlen lassen; unter anderem brachte er vor, es sei für ein ordnungsgemäßes Funktionieren des Europäischen Patentsystems unabdingbar, daß strittige Punkte zwischen dem Prüfer und dem Anmelder erschöpfend behandelt werden könnten, bevor eine Zurückweisung ergehe. Er beantragte die Rückzahlung der Beschwerdegebühr nach Regel 67 EPÜ aufgrund der verfrühten Zurückweisung der Anmeldung.
Der Beschwerdeführer bestritt ferner die Feststellung, Anspruch 1 sei gegenüber D1 nicht neu. Er stellte einen ersten Hilfsantrag, wonach in Anspruch 1 die Angabe "wärmeabstrahlender Film" aufgenommen werden sollte, und schlug als zweiten Hilfsantrag vor, den Anspruch 1 so umzuformulieren, daß der Offenbarung in D1 Rechnung getragen werde. Darüber hinaus wurde noch ein dritter Hilfsantrag gestellt.
VI. In einem Bescheid vom 7. Mai 1993 teilte die Kammer mit, der Einwand gegen die Neuheit wäre hinfällig, wenn durch eine Änderung des Anspruchs 1 deutlich gemacht würde, daß der wärmeabstrahlende Film aus einem Material bestehe, das so wärmeleitend sei, daß die beim Betrieb in den Leiterbahnen entstehende Wärme wirksam abgeleitet werde.
In seiner Erwiderung reichte der Beschwerdeführer am 1. Juli 1993 den nachstehenden Anspruch 1 als neuen Hauptantrag ein:
"1. Gedruckte Leiterplatte (13, 17, 18), die auf mindestens einer Seite der Grundplatte (10) Leiterbahnen (11) aufweist, dadurch gekennzeichnet, daß ein wärmeabstrahlender Film (12) mindestens einen Teil der Oberfläche der Leiterbahnen (11) bedeckt, wobei der wärmeabstrahlende Film (12) aus einem Material besteht, das so wärmeleitend ist, daß die in den Leiterbahnen (11) entstehende Wärme während des Betriebs der gedruckten Leiterplatte wirksam abgegeben wird."
Die Ansprüche 2 bis 4 sollten dahingehend geändert werden, daß sie auf einen "wärmeabstrahlenden" Film Bezug nähmen, die Ansprüche 5 bis 9 unverändert bleiben.
Entscheidungsgründe
1. Änderungen
In dem zu prüfenden neuen Anspruch wird (i) anstelle des Ausdrucks "abstrahlender Film" der Ausdruck "wärmeabstrahlender Film" verwendet und (ii) ferner angegeben, daß der wärmeabstrahlende Film aus einem Material besteht, das so wärmeleitend ist, daß die in den Leiterbahnen (11) entstehende Wärme während des Betriebs der gedruckten Leiterplatte wirksam abgegeben wird.
Aus den Ansprüchen 2 und 5 sowie der Beschreibung (s. Spalte 1, Zeilen 44 bis 46) in der eingereichten Fassung geht hervor, daß die wärmeabstrahlende Eigenschaft des Films bereits in den ursprünglich eingereichten Anmeldeunterlagen erwähnt ist. So wird in der ursprünglichen Beschreibung (s. Spalte 3, Zeilen 10 bis 13) sogar offenbart, daß der abstrahlende Film aus einem metallischen oder nichtorganischen, z. B. einem keramischen Werkstoff wie Aluminiumoxid, besteht. Diese Werkstoffe sind aus dem Stand der Technik als wärmeleitend bekannt; unter Berücksichtigung der in Spalte 2, Zeilen 2 bis 13 offenbarten vorteilhaften Wirkungen dieser Werkstoffe geht die oben unter Ziffer ii dargelegte Änderung nach Ansicht der Kammer nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus.
Der geänderte Anspruch 1 erfüllt somit das Erfordernis des Artikels 123 (2) EPÜ.
2. Neuheit des Anspruchs 1
Der Artikel in der Entgegenhaltung D1 handelt von Überzügen zum Schutz gedruckter Leiterplatten vor Wasserdampf, Schmutz, Staub und Korrosion. Der Überzug bedeckt sowohl die Grundplatte der gedruckten Schaltung als auch die darauf montierten Bauelemente; Überzugsmaterialien sind unter anderem Acryle, Polyurethane, Epoxidharze, Polyimide und Silikone. In Anbetracht dessen, was unter dem Ausdruck "gedruckte Leiterplatte" in der Technik gemeinhin verstanden wird, stimmt die Kammer mit der Prüfungsabteilung darin überein, daß der Entgegenhaltung D1 implizit zu entnehmen ist, daß gedruckte Leiterplatten auf mindestens einer Seite der Grundplatte mit gedruckten Schaltverbindungen oder Verdrahtungen versehen sind. Wird der Überzug - wie in Spalte 3, Zeilen 33 bis 37 offenbart - durch ein Tauchverfahren aufgebracht, so liegt es auf der Hand, daß beide Seiten der Platte und folglich auch die gedruckte Verdrahtung von dem Überzug bedeckt sind. Der Überzug ist laut Offenbarung so dünn, daß Wärme von den Bauelementen abgeführt werden kann (s. Spalte 1, letzter Absatz; Spalte 2). Allerdings sind alle in der Entgegenhaltung offenbarten Überzugsmaterialien wärmeisolierend, wodurch die Ableitung der Wärme von den Leiterbahnen weder verbessert noch begünstigt wird. So hat z. B. das als Überzugsmaterial verwendete Silikon bekanntlich eine Wärmeleitfähigkeit von 20 x 10-2 Wm-1k-1. Allein der geringen Dicke des Überzugs und nicht den thermischen Eigenschaften des Überzugsmaterials ist es also zu verdanken, daß die Wärme abgeführt wird. Dagegen besteht der nun beanspruchte und offenbarte wärmeabstrahlende Film aus einem Material, das so wärmeleitend ist, daß die in den Leiterbahnen entstehende Wärme während des Gebrauchs der gedruckten Leiterplatte wirksam abgegeben wird. Somit ist die hier beanspruchte gedruckte Leiterplatte gegenüber der in der Entgegenhaltung D1 offenbarten neu im Sinne des Artikels 54 (1) EPÜ.
3. Erfinderische Tätigkeit
Die technische Aufgabe, die in der strittigen Anmeldung gelöst werden soll, besteht darin, Wärme von den gedruckten Leiterbahnen wirksam abzuleiten, um eine Überhitzung während des Betriebs zu verhindern (s. Spalte 1, Zeilen 20 bis 37).
Der Überzug nach Entgegenhaltung D1 dient dazu, die gedruckte Leiterplatte und die darauf montierten elektrischen Bauelemente vor einer Beeinträchtigung ihrer elektrischen Eigenschaften durch Feuchtigkeit, Schmutz und Korrosion zu schützen, wobei die zu diesem Zweck verwendeten Überzugsmaterialien als wärmeisolierend bekannt sind. Dem Dokument liegt also nicht die Aufgabe zugrunde, Wärme von den gedruckten Leiterbahnen abzuleiten, ebensowenig legt es die Verwendung eines wärmeleitenden Überzugsmaterials nahe.
Die Entgegenhaltung D2 betrifft einen wärmeleitenden Klebstoff zum Bonden eines elektrischen Bauelements an eine Wärmesenke; die Verwendung eines solchen Werkstoffs auf einer gedruckten Leiterbahn wird darin nicht nahegelegt.
Dementsprechend wird der Gegenstand des Anspruchs 1 nach Ansicht der Kammer von der entgegengehaltenen Vorveröffentlichung nicht nahegelegt und ist somit erfinderisch im Sinne des Artikels 56 EPÜ.
4. Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Nach Regel 67 EPÜ wird die Rückzahlung der Beschwerdegebühr angeordnet, wenn der Beschwerde durch die Beschwerdekammer stattgegeben wird und die Rückzahlung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels der Billigkeit entspricht.
5. Wie in den Absätzen 1 und 2 oben festgestellt, ist die Anmeldung mit den im Hauptantrag des Anmelders vom 1. Juli 1993 genannten Änderungen an Anspruch 1 gewährbar.
6. In Artikel 96 (2) und Regel 51 (3) EPÜ heißt es, wenn "die Prüfung (ergibt), daß die europäische Patentanmeldung oder die Erfindung, die sie zum Gegenstand hat, den Erfordernissen dieses Übereinkommens nicht genügt", so sind die diesbezüglichen Bescheide der Prüfungsabteilung "zu begründen; dabei sollen alle Gründe zusammengefaßt werden, die der Erteilung des europäischen Patents entgegenstehen". Weiter heißt es in Artikel 96 (2) EPÜ, die Prüfungsabteilung "fordert den Anmelder nach Maßgabe der Ausführungsordnung so oft wie erforderlich auf, ... eine Stellungnahme einzureichen."
Es stellt sich die Frage, was unter den Worten "so oft wie erforderlich" in Artikel 96 (2) EPÜ zu verstehen ist. Wann ist insbesondere ein weiterer Bescheid "erforderlich", wenn die Prüfungsabteilung bereits einen Bescheid erlassen und der Anmelder dazu Stellung genommen hat?
6.1 Nach Ansicht der Kammer wird mit der Verwendung des Wortes "erforderlich" in diesem Zusammenhang impliziert, daß eine Prüfungsabteilung unter bestimmten Umständen rechtlich verpflichtet ist, den Anmelder vor Erlaß einer Entscheidung zu weiteren Stellungnahmen aufzufordern. So ist es einer Prüfungsabteilung zwingend vorgeschrieben, einen Anmelder zu weiteren Stellungnahmen aufzufordern, bevor sie eine Entscheidung trifft, die sich auf Gründe stützt, zu denen sich der Anmelder zuvor nicht äußern konnte (Art. 113 (1) EPÜ); eine Unterlassung dieser Aufforderung würde in diesem Fall einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ darstellen.
6.2 Läßt sich jedoch eine solche rechtliche Verpflichtung aus den gegebenen Umständen nicht ableiten, so sind die in Artikel 96 (2) EPÜ gebrauchten Worte "so oft wie erforderlich" dahingehend zu verstehen, daß es im Einzelfall im Ermessen der Prüfungsabteilung liegt, ob sie einen Anmelder vor Erlaß einer Entscheidung zu weiteren Stellungnahmen auffordert (im Anschluß an die Entscheidung T 162/82, ABl. EPA 1987, 533).
Jener Entscheidung zufolge sollte dieser Ermessensspielraum dann zur Anforderung weiterer Stellungnahmen genutzt werden, wenn - etwa nach entsprechenden Änderungen - eine Patenterteilung einigermaßen aussichtsreich erscheine. Andererseits heißt es in derselben Entscheidung und auch in der Entscheidung T 84/82, ABl. EPA 1983, 451, daß in Fällen, in denen kaum Aussicht bestehe, daß die Anmeldung nach einer weiteren Aufforderung zur Stellungnahme erteilungsreif werde, kein Grund vorliege, vor der Zurückweisung der Anmeldung eine solche Aufforderung ergehen zu lassen. Wie in der Entscheidung T 162/82 mit Bezug auf Artikel 96 (2) EPÜ festgestellt wird, "schließt dieser Artikel nicht aus, daß mit dem Anmelder auch unter anderen Umständen Verbindung aufgenommen wird; er entbindet die Prüfungsabteilung jedoch von der Verpflichtung, Bescheide ergehen zu lassen, die bei vernünftiger, objektiver Betrachtung als überflüssig gelten können".
In Fällen, in denen nach Auffassung des Prüfers kaum Aussicht auf Erteilung eines Patents besteht und die Anmeldung nach der ersten Erwiderung des Anmelders zurückgewiesen werden sollte, empfehlen die Richtlinien, die Anmeldung nicht unmittelbar zurückzuweisen, sondern den Anmelder zuvor warnend darauf hinzuweisen, daß die Anmeldung aller Voraussicht nach zurückgewiesen werden wird, wenn nicht überzeugendere neue Argumente oder geeignete Änderungen vorgelegt werden.
6.3 Wird die Art und Weise, in der ein erstinstanzliches Organ sein Ermessen in einer Verfahrensfrage ausgeübt hat, mit der Beschwerde angefochten, so ist es nach Ansicht der Kammer nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die gesamte Sachlage des Falles nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Ein erstinstanzliches Organ, das nach dem EPÜ unter bestimmten Umständen Ermessensentscheidungen zu treffen hat, muß nämlich bei der Ausübung dieses Ermessens einen gewissen Freiraum haben, in den die Beschwerdekammern nicht eingreifen. Nach Ansicht der Kammer sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluß gelangt, daß die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat.
7. In der vorliegenden Sache ist die Anmeldung nach einem einzigen Bescheid der Prüfungsabteilung und der darauf erfolgten Stellungnahme des Anmelders zurückgewiesen worden, ohne daß der Anmelder zu weiteren Stellungnahmen aufgefordert oder schriftlich gewarnt worden wäre, daß die Anmeldung aller Voraussicht nach zurückgewiesen werde. Ein solches Vorgehen verstößt an sich nicht gegen das EPÜ, wenn die Zurückweisungsentscheidung nur auf Gründe gestützt wird, zu denen sich der Anmelder äußern konnte. Die Prüfungsabteilung hat ihre Entscheidung zur unverzüglichen Zurückweisung der Anmeldung jedoch allein damit begründet, daß das Vorbringen des Anmelders zur Art und Weise, wie die Neuheit zu beurteilen sei, und der Verweis auf die Entscheidung T 153/85 "nicht nur als unangebracht betrachtet, sondern auch als ein Mangel an Kooperationsbereitschaft und gutem Willen seitens des Anmelders gewertet" werde und daß "mangels ernstzunehmender Versuche, sich mit den Einwänden der Prüfungsabteilung auseinanderzusetzen, ... die Anmeldung unverzüglich zurückzuweisen" sei, wobei auf die oben genannte Entscheidung T 84/82 Bezug genommen wurde. Die unverzügliche Zurückweisung der Anmeldung wurde also darauf gestützt, daß dem Anmelder ein "Mangel an Kooperationsbereitschaft und gutem Willen" nachgesagt wurde. Es mag sein, daß der Prüfungsabteilung nicht in vollem Umfang bewußt war, wie schwerwiegend diese Feststellung für den Anmelder war.
8. Von der Beanstandung der mangelnden Kooperationsbereitschaft einmal abgesehen, ist die Feststellung, es mangele einem Anmelder oder seinem Vertreter an gutem Willen, - sofern sie gerechtfertigt ist - ein sehr schwerwiegender Vorwurf. Bei einem zugelassenen Vertreter könnte ein solcher Vorwurf, sofern er gerechtfertigt ist, standesrechtliche Folgen haben.
Nach Ansicht der Kammer sind nach dem allgemein anerkannten Grundsatz des rechtlichen Gehörs alle Organe des EPA rechtlich dazu verpflichtet, einem Beteiligten oder seinem Vertreter Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor sie eine Entscheidung erlassen, in der festgestellt wird, daß es dem Beteiligten oder seinem Vertreter an gutem Willen mangele.
8.1 Im übrigen bestünde für die Prüfungsabteilung im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 96 (2) EPÜ (s. Nr. 6.1) aufgrund des Artikels 113 (1) EPÜ eine "notwendige" rechtliche Verpflichtung, den Anmelder zu weiteren Stellungnahmen aufzufordern, bevor sie eine ihn beschwerende Entscheidung zur unverzüglichen Zurückweisung der Anmeldung trifft und diese damit begründet, daß er es an gutem Willen habe fehlen lassen.
8.2 Allein schon aus diesen Gründen hält die Kammer in der vorliegenden Sache den Erlaß der Entscheidung der Prüfungsabteilung, in der mangelnder guter Wille festgestellt wird, ohne dem Anmelder Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, für einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ.
9. Als die Prüfungsabteilung mit der oben genannten Begründung die Entscheidung erließ, die Anmeldung unverzüglich zurückzuweisen, hat sie es eindeutig versäumt, dem Erfordernis des Artikels 113 (1) EPÜ Rechnung zu tragen, nämlich die Beteiligten zur Stellungnahme aufzufordern. Abgesehen davon hat sie bei der Ausübung ihres Ermessens, bei der sie sich
- wie sie behauptet - von der Entscheidung T 84/82 leiten ließ, auch die in Nummer 6.2 oben dargelegten Kriterien nicht beachtet.
Im übrigen ist die Kammer der Ansicht, daß die Prüfungsabteilung ihr Ermessen in der vorliegenden Sache willkürlich ausgeübt hat, denn das vom Vertreter des Anmelders abgefaßte Schreiben vom 27. Februar 1991 enthält nichts, was die Feststellung eines "Mangels an Kooperationsbereitschaft und gutem Willen" in irgendeiner Weise rechtfertigen könnte. Die Prüfungsabteilung hat ihr Ermessen nicht pflichtgemäß und auch nach Maßgabe der falschen Kriterien ausgeübt, dies stellt daher ebenfalls einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne der Regel 67 EPÜ dar.
10. Die Prüfungsabteilung scheint bei ihrer Feststellung eines "Mangels an Kooperationsbereitschaft und gutem Willen" von einer falschen Vorstellung darüber ausgegangen zu sein, was vom Anmelder bei seiner Erwiderung auf die im ersten Bescheid einer Prüfungsabteilung erhobenen Einwände tatsächlich verlangt wird. Der Anmelder ist in dieser Situation (ob mit oder ohne zugelassenen Vertreter) berechtigt, alle möglichen Argumente (rechtlicher und technischer Art) gegen die Einwände der Prüfungsabteilung zur Verteidigung der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung vorzubringen. Auch steht es ihm frei, ggf. auf geeignete Argumente gestützte Hilfsanträge zu stellen, wozu er aber nicht verpflichtet ist.
Hält die Prüfungsabteilung die vom Anmelder vorgebrachten Argumente für nicht stichhaltig, so kann sie diese natürlich verwerfen (und die Anmeldung nach einem einzigen Bescheid zurückweisen, sofern dies nach den Umständen gerechtfertigt ist). Die Einreichung von Argumenten, die als nicht stichhaltig erachtet werden, ist aber weder ein Anzeichen für "mangelnde Kooperationsbereitschaft" noch für "mangelnden guten Willen" des Anmelders. Weder der Anmelder noch sein Vertreter ist verpflichtet, mit der Prüfungsabteilung in dem Sinne zusammenzuarbeiten, daß er deren Einwänden zustimmt. Der Anmelder ist daran interessiert, ein Patent in einer Fassung zu erlangen, die einen bestimmten Schutzumfang gewährt, und dem zugelassenen Vertreter kommt die Aufgabe zu, Argumente zugunsten dieser Fassung vorzutragen; die Prüfungsabteilung hingegen hat allein die Aufgabe, ein den Erfordernissen des EPÜ entsprechendes Patent zu erteilen. Bei einer solchen Konstellation kann es keine "Kooperationsbereitschaft" im obigen Sinne geben; sie zu erwarten, entbehrt jeder Grundlage.
Desgleichen können nicht stichhaltige, rechtliche oder tatsächliche Gründe zur Stützung einer Anmeldung durchaus gutwillig vorgebracht worden sein. Mangelnder guter Wille eines Anmelders kommt im allgemeinen nur sehr selten vor (etwa wenn ein Anmelder bewußt versuchen würde, die Prüfungsabteilung über wichtige Sachverhalte irrezuführen).
In der unter Nr. 6.2 genannten Entscheidung T 84/82 ist im Leitsatz II sowie in Nr. 7 die Rede von der Bereitschaft der Anmelder zur Mitarbeit als Voraussetzung dafür, daß das EPA sein Ziel erreicht, die Sachprüfung gründlich, rationell und zügig durchzuführen. Auch wenn von den an Verfahren vor dem EPA beteiligten Parteien eine angemessene Kooperationsbereitschaft in Verfahrensdingen und guter Wille im allgemeinen erwartet werden kann, rechtfertigt die Entscheidung T 84/82 doch keineswegs, daß eine Anmeldung nach einem einzigen Bescheid wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft und mangelnden guten Willens zurückgewiesen wird. Nach Ansicht der Kammer ist es im Regelfall grundsätzlich nicht Aufgabe einer Prüfungsabteilung, den Grad der "Kooperationsbereitschaft" eines Anmelders oder seinen guten Willen zu beurteilen, wenn sie im Rahmen ihres Ermessensspielraums nach Artikel 96 (2) EPÜ zu entscheiden hat, ob weitere Stellungnahmen angefordert werden sollen. Die diesbezüglich anwendbaren Kriterien sind in den Nrn. 6.1 und 6.2 dargelegt.
11. Im übrigen hält es die Kammer im vorliegenden Fall für billig, die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Prüfungsabteilung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Prüfungsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, auf der Grundlage des am 1. Juli 1993 eingereichten Hauptantrags ein Patent zu erteilen.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.