2.4.2 Materielle Beschwerdeberechtigung (Artikel 107 EPÜ)
(i) Entscheidung zur Erteilung des Patents
In J 12/83 (ABl. 1985, 6) wurde festgestellt, dass ein europäischer Patentanmelder durch die Entscheidung zur Erteilung des Patents "beschwert" im Sinne von Art. 107 EPÜ 1973 sein kann, wenn das Patent in einer Fassung erteilt wird, mit der er nicht gemäß Art. 97 (2) a) EPÜ 1973 und R. 51 (4) EPÜ 1973 (R. 71 (3) EPÜ) einverstanden ist (s. auch J 12/85, ABl. 1986, 155; T 114/82 und T 115/82, beide ABl. 1983, 323; T 1/92, ABl. 1993, 685).
In der Sache T 1003/19 war der Beschwerdeführer trotz der Erteilung seines Patents beschwert. Die erteilte Fassung entsprach weder einer vom Anmelder eingereichten noch einer von ihm gebilligten Fassung und auch nicht einer Fassung, die als von ihm gebilligt gelten konnte. Folglich gab es eine Diskrepanz zwischen dem Antrag des Anmelders und der Entscheidung der Prüfungsabteilung. R. 71 (5) EPÜ ist nur anwendbar, wenn dem Anmelder die für die Erteilung vorgesehene Fassung gemäß R. 71 (3) EPÜ mitgeteilt worden ist. Nach Auffassung der Kammer war dies hier nicht der Fall, denn es gab genügend Anhaltspunkte dafür, dass die Fassung, auf die sich die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ bezog, nicht die tatsächliche Absicht der Prüfungsabteilung widerspiegelte. S. auch T 2081/16.
Mit Verweis auf T 1003/19 und T 2081/16 erklärte die Kammer in T 408/21, dass R. 71 (5) EPÜ auch im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, denn nach R. 71 (3) EPÜ muss dem Anmelder, bevor sein Einverständnis als erteilt gilt, die Fassung mitgeteilt werden, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen gedenkt. Obwohl der (damalige) Anmelder eine Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ erhalten hatte, entsprachen die darin angegebenen Unterlagen nicht der für die Erteilung vorgesehenen Fassung.
In T 2277/19 befand die Kammer, dass der Beschwerdeführer durch die Patenterteilung nicht beschwert war. Sie folgte also nicht dem Ansatz der Entscheidungen T 1003/19 und T 2081/16. R. 71 (3) EPÜ erlege dem Anmelder die Pflicht auf, die für die Erteilung vorgesehene Fassung zu überprüfen. Dass ein Anmelder sein Recht, Änderungen nach R. 71 (6) EPÜ zu beantragen, nicht ausübe, könne deshalb nur als Einverständnis mit der ihm mitgeteilten, d. h. der für die Erteilung vorgesehenen Fassung gewertet werden.
In T 265/20 befand die Kammer, dass der Beschwerdeführer durch den Erteilungsbeschluss beschwert war, da im erteilten Patent sämtliche in seinem Antrag aufgeführten Zeichnungsblätter fehlten. Die Kammer verwies auf T 2277/19 (s. oben), wo die Ausgangssituation eine andere war. Dort hatte die ursprüngliche Anmeldung die Beschreibungsseiten, die Ansprüche und die Zeichnungsblätter 1/18 bis 18/18 enthalten. Im Prüfungsverfahren hatte der Anmelder die geänderten Zeichnungsblätter 1/7 bis 7/7 eingereicht, die die Zeichnungsblätter 1/18 bis 18/18 ersetzen sollten. Die Zeichnungsblätter 1/7 bis 7/7 waren in der dem Anmelder nach R. 71 (3) EPÜ übermittelten Fassung enthalten, ebenfalls enthalten waren jedoch die Zeichnungsblätter 8/18 bis 18/18. Vorbehaltlich kleiner Änderungen erklärte der Anmelder sodann sein Einverständnis mit der für die Erteilung vorgesehenen Fassung. Seine Beschwerde wurde für unzulässig befunden, weil er nicht beschwert war. Die Sachlage im vorliegenden Fall war insofern eine andere, als die dem Anmelder nach R. 71 (3) EPÜ übermittelte Fassung und das Druckexemplar überhaupt keine Zeichnungen enthielten, d. h. weder die beantragten noch sonstige, und das Einverständnis nicht ausdrücklich erteilt wurde, sondern vielmehr als erteilt galt.
In T 646/20 hatte der Anmelder sein Einverständnis mit der für die Erteilung vorgesehenen Fassung und den zugehörigen bibliografischen Daten erklärt. Gegen den Erteilungsbeschluss legte er jedoch Beschwerde ein und beantragte die Berichtigung der benannten Mitgliedstaaten und die Hinzufügung weiterer Staaten. Die Kammer befand, dass sich die Einverständniserklärung des Anmelders auf die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ hin auch auf die benannten Mitgliedstaaten erstreckt und der daraufhin von der Prüfungsabteilung erlassene Erteilungsbeschluss mit dem Inhalt der Mitteilung und dem Einverständnis des Anmelders übereinstimmte. Sie entschied daher, dass der Beschwerdeführer nicht beschwert war.
Zu diesem Thema, s. auch Kapitel IV.B.3.2. "Zustimmung des Anmelders zum Text."
(ii) Weitere Fälle
Ein Anmelder ist beschwert und somit beschwerdeberechtigt, wenn die Prüfungsabteilung zwar Abhilfe gewährt, aber die Rückzahlung der Beschwerdegebühr ablehnt (J 32/95, ABl. 1999, 733).
Unter der Begründung, auf die eine Abhilfeentscheidung gestützt ist, sind nicht nur die rechtlichen Gründe der Entscheidung zu verstehen, sondern auch die faktischen Gründe, auf denen die rechtlichen Gründe basieren. In T 142/96 wurde entschieden, dass ein Anmelder auch beschwert ist, wenn er durch die faktischen Gründe beschwert ist.
In J 17/04 befand die Kammer, dass sich die Beschwerdeschrift zwar nur auf eine Berichtigung der angefochtenen Entscheidung nach R. 88 und 89 EPÜ 1973 bezog, der Beschwerdeführer aber (implizit) behauptet habe, dass die angefochtene Entscheidung den regionalen Geltungsbereich des Patents zu Unrecht einschränke und diese Entscheidung aufzuheben sei. Die Kammer war deshalb der Auffassung, der Beschwerdeführer habe ausreichend erklärt, dass er beschwert sei, und erklärte die Beschwerde für zulässig.
In J 5/79 (ABl. 1980, 71) wurde festgestellt, dass ein Anmelder, dessen Prioritätsrecht wegen Nichteinreichung der Prioritätsunterlagen für erloschen erklärt wurde, durch die Entscheidung nicht mehr beschwert ist, wenn er vor Veröffentlichung der Anmeldung in den vorigen Stand wiedereingesetzt wurde.