8.1.3 Anwendbarkeit von G 2/88 und G 6/88 auf Verfahrensansprüche
In T 1049/99 vertrat die Kammer die Auffassung, dass sich die in den Entscheidungen G 2/88 und G 6/88 (ABl. 1990, 93 und 114) genannten Kriterien nicht ohne Weiteres auf Verfahrensansprüche übertragen ließen. Die Kammer erinnerte daran, dass gemäß diesen Entscheidungen ein neuer Zweck zusammen mit einer neuen technischen Wirkung der beanspruchten Verwendung eines bereits bekannten Produkts zu Neuheit verhelfen könne, und zwar selbst dann, wenn die Ausführungsart, mit der sich der neue Zweck erzielen lasse, identisch sei mit der bekannten Ausführungsart, da mit einem Verwendungsanspruch eigentlich die Verwendung eines bestimmten Gegenstands als Verwendung zur Erzielung einer Wirkung definiert werde. Von dieser Konstellation unterscheidet die Kammer einen Verfahrensanspruch, der die Verwendung eines bestimmten Gegenstands als Verwendung zur Herstellung eines Erzeugnisses definiert und damit unter Art. 64 (2) EPÜ 1973 fällt. Eine Übertragung der Kriterien, die die Große Beschwerdekammer in den vorstehend genannten Entscheidungen aufgestellt hat, würde bedeuten, dass ein mit einem bekannten Verfahren gewonnenes Erzeugnis geschützt würde, wobei der Schutz an der im Verfahren selbst entdeckten neuen Wirkung festgemacht würde, obwohl dieses Verfahren mit dem bekannten Verfahren identisch sei (s. auch T 910/98).
In T 1179/07 stellte die Kammer fest, dass die maßgebenden Überlegungen in G 2/88 und G 6/88 einen Anspruch betreffen, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffs für einen bisher nicht bekannten Zweck gerichtet ist. Zu zweckgebundenen Verfahrensansprüchen finden sich in den vorstehend genannten Entscheidungen keine Ausführungen. Obwohl die "Verwendung eines Stoffs" als Verfahren betrachtet werden kann, das als Verfahrensschritt die Verwendung des Stoffs enthält, ist ein Verwendungsanspruch normalerweise nicht einem Verfahrensanspruch gleichzusetzen, da in der Regel Art. 64 (2) EPÜ auf einen Verwendungsanspruch nicht anwendbar ist. Nach Meinung der Großen Beschwerdekammer in G 2/88 bezieht sich Art. 64 (2) EPÜ in der Regel nicht auf ein Patent, in dem die Verwendung eines Erzeugnisses zur Erzielung einer Wirkung beansprucht wird (dies ist üblicherweise Gegenstand eines Verwendungsanspruchs), sondern vielmehr auf ein europäisches Patent, dessen beanspruchter technischer Gegenstand ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses ist. Im vorliegenden Fall ist das beanspruchte Verfahren trotz der Zweckangabe eindeutig auf die Herstellung eines Produkts gerichtet. Durch eine Verfahrensmaßnahme am Ausgangsprodukt wird ein Endprodukt erzeugt, das sich vom Ausgangsprodukt unterscheidet. Würde die Kammer die Schlussfolgerungen aus G 2/88 und G 6/88 auf den erteilten Verfahrensanspruch übertragen, hätte dies zur Folge, dass das Produkt des erteilten Verfahrensanspruchs 1 über Art. 64 (2) EPÜ noch einmal geschützt würde, obwohl dieses Produkt aus D1 bekannt ist und nach genau dem gleichen in D1 beschriebenen Verfahren hergestellt worden ist. Es kann aber nicht Sinn und Zweck des Art. 64 (2) EPÜ sein, dass sich der Schutz dieses Artikels auch auf ein durch ein bekanntes Verfahren hergestelltes Erzeugnis erstreckt. Es ist insbesondere diese unterschiedliche Beziehung eines Verfahrens- und Verwendungsanspruchs zu Art. 64 (2) EPÜ, die nach Meinung der Kammer keinen Spielraum dafür lässt, die von der Großen Beschwerdekammer in G 2/88 und G 6/88 entwickelten Grundsätze hinsichtlich der Verwendung eines bekannten Stoffs für einen bisher nicht bekannten Zweck auf Verfahrensansprüche auszudehnen (s. auch T 684/02, T 910/98 und T 1049/99).
In T 304/08 stellte die Kammer fest, dass sich die Entscheidung G 6/88 ebenso wie G 2/88 (ABl. 1990, 93) auf Ansprüche bezieht, die auf die Verwendung eines bekannten Stoffs für einen neuen Zweck gerichtet sind. In diesen Entscheidungen wird nichts zu Ansprüchen auf eine Methode gesagt (bzw. zu Verfahrensansprüchen; beide Begriffe werden in der vorliegenden Entscheidung synonym verwendet), bei denen der Zweck der Ausführung der Methode im Anspruch definiert wird. In der Entscheidung G 2/88 heißt es jedoch, dass es im Grunde zwei verschiedene Arten von Ansprüchen gibt, nämlich Ansprüche auf Gegenstände (z. B. Erzeugnisse, Vorrichtungen) und Ansprüche auf Tätigkeiten (z. B. Methoden, Verfahren, Verwendungen) und dass die technischen Merkmale eines Anspruchs für eine Tätigkeit die physischen Schritte sind, die diese Tätigkeit definieren. In der Entscheidung G 2/88 wird bei der Bestimmung des Schutzbereichs nach Art. 64 (2) EPÜ des Weiteren unterschieden zwischen Ansprüchen, die die Verwendung eines bestimmten Gegenstands zur Erzielung einer "Wirkung" definieren, und Ansprüchen, die die Verwendung eines Gegenstands zur Herstellung eines "Erzeugnisses" definieren. Geht man also davon aus, dass ein Verwendungsanspruch tatsächlich die Verwendung eines Stoffs zur Erzielung einer "Wirkung" und nicht zur Herstellung eines "Erzeugnisses" definiert, so ist der Verwendungsanspruch kein Verfahrensanspruch im Sinne des Art. 64 (2) EPÜ. Die von der Großen Beschwerdekammer in den vorgenannten Entscheidungen aufgestellten Kriterien können daher nur auf Ansprüche angewandt werden, die ausschließlich auf die Verwendung eines Stoffs zur Erzielung einer Wirkung gerichtet sind.
In T 1092/01 befand die Kammer, dass die Begründung der Entscheidung G 2/88 auf den vorliegenden Anspruch anwendbar war, der auf ein bekanntes Verfahren gerichtet war, mit dem sich eine bis dahin unbekannte technische Wirkung (Umwandlung von Lutein in dessen isomerische Form Zeaxanthin) erzielen ließ. Nach Auffassung der Kammer war hier die Frage zu beantworten, ob der Fachmann das beanspruchte Verfahren für einen anderen Zweck als den nutzen würde, zu dem die aus dem Stand der Technik bekannten Verfahren angewendet werden. Sie gelangte zu dem Ergebnis, dass das beanspruchte Verfahren angesichts seines Ausgangsmaterials und seiner Verfahrensschritte letztlich demselben Endzweck diene, nämlich der Erzeugung von Pigmenten für die Nahrungsmittelindustrie. Der offenbarte Zweck eröffne nicht die Möglichkeit einer neuen Betätigung und trete bei der Ausführung der aus dem Stand der Technik bekannten Verfahren inhärent ein. Daher entschied die Kammer, dass die Beschreibung einer solchen Wirkung dem beanspruchten Verfahren keine Neuheit verleihen könne (s. T 1039/09). Zwar postulierte sie unter Nr. 17 der Gründe, dass das Grundprinzip der G 2/88 auch auf einen Verfahrensanspruch übertragbar sei, gab dafür aber keine nähere Begründung. Aber auch diese Entscheidung kommt zu dem Schluss, dass die Zweckangabe in dem Verfahrensanspruch die Neuheit nicht begründen kann (s. T 1179/07).