4.3.5 Unvollständiges Vorbringen in Beschwerdebegründung oder Erwiderung – Artikel 12 (3) VOBK 2020 in Verbindung mit Artikel 12 (5) VOBK 2020
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Nach den geltenden Grundsätzen der VOBK müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten (Art. 12 (3) VOBK 2020, im Wesentlichen entsprechend Art. 12 (2) VOBK 2007). Zweck dieser Bestimmung, sowohl in der alten als auch in der revidierten Fassung ist es, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicherzustellen und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen (T 2610/16 mit Verweis auf Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl. 2019, V.A.4.12.5; s. auch T 1904/16, T 113/18 und T 319/18). Diese Bestimmung spielt im Hinblick sowohl auf die Zulässigkeit der Beschwerde (s. V.A.2.6.3 g)) als auch auf die Zulassung unvollständiger oder unbegründeter Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente oder Beweismittel zum Beschwerdeverfahren eine Rolle (s. die unter Kapitel V.A.4.3.5 zusammengefassten Entscheidungen).
Dieses Substantiierungserfordernis gilt auch für Vorbringen (z. B. Anträge, siehe T 534/21), das der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegt. Um aber die Rechtsprechung zu Art. 12 (3) und (5) VOBK 2020 im Kontext der anderen Bestimmungen in Art. 12 und 13 VOBK 2020 darstellen zu können, werden Entscheidungen zu diesem Erfordernis im Kapitel V.A.4 aufgeführt, auch dann wenn es sich nicht um "neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren" handelt.
Ein pauschaler Verweis des Beschwerdeführers auf Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren genügt nicht, um festzustellen, warum die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden sollte. Ein solches Vorgehen widerspricht dem Beschwerdeverfahren, in dem der Beschwerdeführer nach Art. 108 und R. 99 (2) EPÜ sowie Art. 12 (3) VOBK 2020 die Obliegenheit hat, mit seiner Beschwerdebegründung einen vollständigen Sachvortrag zu präsentieren, der es der Beschwerdekammer und den übrigen Beteiligten ermöglicht, ohne weitere Nachforschungen zu verstehen, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden soll (T 706/17; ausführlich erläutert auch in T 2117/18 in Bezug auf den nur geringfügig geänderten Art. 12 (2) VOBK 2007). Siehe auch T 2457/16.
Die Kammer in T 1041/21 sah auch pauschale Verweise des Beschwerdegegners (Patentinhabers), der im erstinstanzlichen Verfahren obsiegt hatte, auf seinen damaligen Vortrag als unvereinbar mit dem Erfordernis des Art. 12 (3) VOBK an. Durch die Bezugnahme auf im Einspruchsverfahren vorgebrachte Argumente oder deren bloße Wiederholung ist weder für die Kammer noch für die andere Partei sofort ersichtlich, welche vom Beschwerdeführer in seiner Beschwerde gegen den Hauptantrag erhobenen Einwände durch die in den Hilfsanträgen vorgenommenen Änderungen ausgeräumt wurden und in welchem Maße und warum. In T 503/20 stimmte die Kammer dieser Ansicht zu und verwies auf den Wortlaut von Art. 12 (3) und (5) VOBK 2020 und die Erläuterungen zu Art. 12 (5) VOBK 2020 (Zusatzpublikation 2, ABl. 2020, S. 30 > 17), wonach ein Beteiligter "ausdrücklich" alle Anträge, Tatsachen usw., auf die Bezug genommen wird, "im Einzelnen anführen" muss. Siehe aber auch T 108/20, in der die Kammer die Auffassung vertreten hatte, dass bei Verweisen auf unerwidertes Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren ein pauschaler Verweis darauf ausreicht, um dieses zum Gegenstand des Beschwerdeverfahrens zu machen.
Bezüglich der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Erfordernis eines vollständigen Sachvortrags sieht der neue Art. 12 (5) VOBK 2020 vor, dass es im Ermessen der Kammer steht, den Teil des Beschwerdevorbringens, der die Voraussetzungen des Art. 12 (3) VOBK 2020 nicht erfüllt, nicht zuzulassen. In T 503/20 betonte die Kammer, dass die Zulassung von Passagen der Einspruchserwiderung, auf die unter Angabe ihrer konkreten Randnummern verwiesen wird, in ihrem Ermessen steht und von den Umständen des Einzelfalls abhängt, etwa der Frage, ob eine ausreichende Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung erfolgt ist und – sofern es sich um Punkte handelt, die für diese Entscheidung nicht relevant wurden – ob aus dem Gesamtvortrag beider Parteien ausreichend klar wird, welche Punkte mit welcher konkreten Begründung weiterverfolgt werden und wie sich diese zum Vortrag der Gegenseite verhalten.
Das Nachholen der erforderlichen Substantiierung für einen vormals nicht substantiierten Einwand ist keine bloße Präzisierung. Vielmehr kann ein Einwand oder ein Antrag erst dann als wirksam eingereicht gelten, wenn er ausreichend substantiiert ist (T 2117/18, T 1191/18; eine andere Auffassung wurde aber mit Verweis auf Art. 12 (5) VOBK 2020 in T 1220/21 vertreten). Eine spätere Vervollständigung des unvollständigen Vortrags wurde z. B. in J 3/20, T 2227/15, T 326/16, T 1439/16 und T 2796/17 als Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 VOBK 2020 angesehen (s. auch Kapitel V.A.4.2.2 k) "Ergänzung von in Beschwerdebegründung und Erwiderung nicht ausreichend substantiierten Einwänden"). Bei der Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (1) oder (2) VOBK 2020, später eingereichte Änderungen des Beschwerdevorbringens nicht zuzulassen, haben sich die Kammern in mehreren Entscheidungen auf Art. 12 (3) VOBK 2020 berufen (s. z. B. T 1439/16 und T 1533/15 sowie nachstehendes Kapitel V.A.4.4.6 i)).