4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
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Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Obwohl sich in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern unterschiedliche Konzepte zum Beweismaßstab herausgebildet haben, ist diesen gemeinsam, dass die Beurteilung unter Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung erfolgen muss (wie einmal mehr in G 2/21, Nr. 46 der Gründe bestätigt).
In der Sache T 1138/20, die sich hauptsächlich mit Beweisfragen befasste, wurde im ersten Orientierungssatz eindeutig klargestellt, dass es in Verfahren vor dem EPA nur einen Maßstab der Beweiswürdigung gibt, nämlich dass das Entscheidungsorgan unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und der ihm vorliegenden einschlägigen Beweismittel davon überzeugt ist, dass eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat.
In G 2/21 (ABl. 2023, A85) ging die Große Beschwerdekammer zwar nicht ausführlich auf den Beweismaßstab ein, stellte aber trotzdem fest: "Der einzig entscheidende Faktor ist, ob der Richter persönlich vom Wahrheitsgehalt der Tatsachenbehauptung überzeugt ist, d. h. für wie glaubhaft er ein Beweismittel einstuft" (s. Nr. 31 der Gründe, sowie, wie oben genannt, Nr. 46 der Gründe).
Wird ein Maßstab bei der Beweiswürdigung angewendet, so ist dies im EPA üblicherweise das Abwägen der Wahrscheinlichkeit. Ausnahmsweise – im Wesentlichen im Einspruchsverfahren, wo nur der Einsprechende Zugang zu Informationen (Beweisen) hat, z. B. zu einer angeblichen offenkundigen Vorbenutzung – verschiebt sich der Beweismaßstab vom Abwägen der Wahrscheinlichkeit zum zweifelsfreien Nachweis ("mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit").
In T 1138/20 befand die Kammer, dass beispielsweise die Tatsache, dass nur der Einsprechende Zugang zu den relevanten Beweismitteln hatte, vom Entscheidungsorgan bei seiner Beurteilung, welches Gewicht und welche Bedeutung diesen Beweismitteln beizumessen ist, gebührend berücksichtigt werden muss – was nicht damit gleichzusetzen ist, dass ein anderer Beweismaßstab anzuwenden wäre.
Zu erwähnen sind auch Entscheidungen jüngeren Datums, die lange Ausführungen zum Beweismaßstab enthalten und die bisherige Rechtsprechung aufgreifen: T 2451/13 zur Bedeutung von "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" und T 545/08 zur Bedeutung des "Abwägens der Wahrscheinlichkeit" in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, das dort im allgemeinen Rahmen des Beweisrechts beleuchtet wird und das der Kammer zufolge nicht auf eine Wahrscheinlichkeit von 51 % reduziert werden kann.
In der oben bereits erwähnten Entscheidung T 1138/20 ging die Kammer sehr ausführlich auf den vor dem EPA anzuwendenden Beweismaßstab ein und verwies auf Entscheidungen (T 545/08, T 768/20, T 660/16, T 1634/17), in denen eine ausdrückliche Behandlung der Frage des anzuwendenden Beweismaßstabs nicht für notwendig erachtet, sondern im Gegenteil betont wurde, dass die Überzeugung der Kammer maßgeblich ist. Die Kammer befand, dass eine Unterscheidung zwischen den vorgenannten Maßstäben weder notwendig noch durch die Rechtsprechung gerechtfertigt ist.
In der Tat wurde in mehreren Entscheidungen für den jeweiligen Einzelfall keine Notwendigkeit gesehen, ausdrücklich auf den anzuwendenden Beweismaßstab einzugehen (vgl. T 2466/13 zur fehlenden Notwendigkeit in diesem Fall, die Frage des erforderlichen Beweismaßes zu klären, sowie T 768/20 und T 660/16 mit Verweis auf T 545/08, Nrn. 8 und 11 der Gründe). In T 464/20 hatte der Beschwerdeführer den von der ersten Instanz bei der Beurteilung der behaupteten Vorbenutzung angewandten Beweismaßstab (Abwägung der Wahrscheinlichkeit) angefochten. Die Kammer stellte jedoch fest, dass die Einspruchsabteilung die Anwendung des Beweismaßes an ihre Überzeugung der Richtigkeit des behaupteten Sachverhalts geknüpft hatte. Die Kammer war daher von der Unrichtigkeit der Anwendung des Grundsatzes des Abwägens der Wahrscheinlichkeit nicht überzeugt (in Anlehnung an T 768/20), zumal die Einspruchsabteilung von der Richtigkeit des behaupteten Sachverhalts überzeugt war. Auch die Kammer in T 34/08 erklärte ihre Überzeugung ohne Bezugnahme auf einen bestimmten Beweismaßstab. In T 1634/17 (Nr. 19 der Gründe) sah die Kammer keine Notwendigkeit, Stellung zu nehmen; entscheidend in Bezug auf die Beweismittel, die der erstinstanzlichen Abteilung oder einer Kammer in einem konkreten Einzelfall vorliegen, ist, dass das Entscheidungsorgan davon überzeugt ist, ob eine bestimmte mündliche Offenbarung stattgefunden hat und eine bestimmte Information einem Hörerkreis mitgeteilt worden ist oder nicht.
T 1808/21 betraf die Frage, ob der Beschwerdeführer 1 das Gesetz umgangen und, wie behauptet, durch seine Rolle als "Strohmann" den geforderten Beweismaßstab für die öffentliche Zugänglichkeit von D5 gesenkt hatte. Die Kammer gelangte zu der Überzeugung, dass im vorliegenden Fall die Unterscheidung zwischen dem Maßstab der "Abwägung der Wahrscheinlichkeit" und dem Maßstab der "mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" nicht ausschlaggebend war. Für maßgeblich erachtete sie vielmehr in Anlehnung an T 768/20 und T 660/16, ob das Entscheidungsorgan angesichts aller vorliegenden Tatsachen letztlich davon überzeugt ist, dass das entscheidende, vom Beschwerdeführer 1 mit seinem Einspruch ordnungsgemäß vorgelegte Beweismittel tatsächlich öffentlich zugänglich war.
- T 1708/18
Catchword:
1. The issue of which standard of disclosure applies when assessing the legal question of novelty and the issue of which standard of proof applies when assessing evidence and factual questions are distinct and unrelated. The fact that the standard of disclosure required for a finding of lack of novelty (or for allowing an amendment to the application under Article 123(2) EPC) is the standard of a direct and unambiguous disclosure is immaterial for the question of what standard of proof applies when considering evidence and factual issues in the context of novelty (or inventive step) (see point 16). 2. The standard of proof generally applied at the EPO for deciding on an issue of fact is the balance of probabilities. According to this standard, the EPO must base its decisions on statements of fact which, based on the available evidence, are more likely than not to be true. This standard also applies when examining factual issues in the context of novelty (see point 14).
- T 1311/21
Zusammenfassung
In T 1311/21, concerning the public availability of the user manual E7, written by the company Sensors, Inc., the board addressed in detail the question of standard of proof.
The board noted that neither of the two standards of proof "balance of probabilities" and "beyond reasonable doubt" was to be applied exclusively and without further reflection. The board also referred to the applicable standards when both parties have access to the evidence relating to the alleged prior use (balance of probabilities) compared to cases where evidence lies within the sphere of the opponent in the sense that the proprietor has barely any or no access to the evidence (up to the hilt).
However, in certain cases, such as the present one, the board stated this binary approach to proof standards could turn out to be overly formalistic and simplistic. On the one hand, since E7 originated not from the opponent but from a third party, it could not simply be said that the evidence "lies within the sphere of the opponent". On the other hand, the arguments put forward by the patentee showed that there was an imbalance between the parties in the access to E7 and thus the possibility to establish whether E7 was part of the prior art, so that it could also not simply be said that both parties had access to this evidence.
Actually, while the board concurred with the patentee that the evidence on the question of whether E7 was part of the prior art was not in a neutral sphere of control, inter alia due to the undisputed business relationship between the opponent and Sensors, Inc., the board was of the opinion that the patentee had had opportunities to search for counter-evidence.
Since the user manual E7, whose public availability prior to the priority date of the patent was at issue, was neither within the sphere of control of the opponent nor within a neutral sphere of control to which both parties had access, the board was of the opinion that neither standard of proof was applicable. In fact, the present board agreed with the conclusions reached in the decisions T 1138/20 and T 1634/17. It therefore considered that, while the two standards of proof appearing in the jurisprudence of the boards of appeal may well be used as a yardstick in straightforward cases, what mattered, in plain language and as concluded in T 1138/20, was the deciding body's conviction on the occurrence of an alleged fact, taking into account the particular circumstances of the case and the relevant evidence before it (see Catchword 2.).
The dispute between the parties about which exact standard of proof was to be applied to the present situation could be left undecided, and the board came to the conclusion after assessment of the evidence that it was sufficiently proven that E7 had actually been made available to the public prior to the priority date of the patent. The subject-matter of claim 1 was not novel in view of document E7 (Art. 54(1) EPC).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”