4. Bestimmung der Offenbarung des einschlägigen Stands der Technik
4.11. Ausführbarkeit des Offenbarungsgehalts
Eine Offenbarung ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann neuheitsschädlich, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist, d. h. vom Fachmann ausgeführt werden kann (T 1437/07, T 1457/09). Ein Gegenstand kann nur dann als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit Bestandteil des Stands der Technik im Sinne des Art. 54 (1) EPÜ angesehen werden, wenn die dem Fachmann vermittelte Information so vollständig ist, dass er zum maßgeblichen Zeitpunkt die technische Lehre, die Gegenstand der Offenbarung ist, unter Zuhilfenahme des von ihm zu erwartenden allgemeinen Fachwissens ausführen kann (s. T 26/85, T 206/83, T 491/99, T 719/12).
In T 206/83 (ABl. 1987, 5) wurde insbesondere festgestellt, dass ein Dokument keine ausreichende Offenbarung eines chemischen Stoffs enthält, wenn es zwar seine Formel und die Verfahrensschritte zu seiner Herstellung nennt, aber der Fachmann weder dem Dokument noch seinem allgemeinen Fachwissen entnehmen kann, wie er sich die notwendigen Ausgangs- oder Zwischenprodukte verschaffen kann. Angaben, die erst durch eine umfassende Recherche gefunden werden können, sind nicht dem allgemeinen Fachwissen zuzurechnen. Das Erfordernis einer ausführbaren Offenbarung entspricht auch dem in Art. 83 EPÜ 1973 erwähnten Grundsatz, dass die Erfindung in der europäischen Patentanmeldung so deutlich und vollständig zu offenbaren ist, dass ein Fachmann sie ausführen kann. Die Anforderungen an eine ausreichende Offenbarung sind also in allen Fällen dieselben.
In T 719/12 bestritt keiner der Beteiligten, dass die Verbindung Methyl-2-(α-Thenoyl)-Ethylamin in Dokument (1) namentlich offenbart war. Die Kammer erklärte, dass das Dokument (1) allein die Verbindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich machte, weil die darin beschriebenen konkreten Versuche zu deren Herstellung gescheitert waren. Sie entschied daher, dass die Verbindung der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden war, weil am Veröffentlichungstag des Stands der Technik kein Verfahren zu ihrer Herstellung verfügbar war.
Im Bereich der Auswahlerfindungen spielt das Erfordernis der ausführbaren Offenbarung ebenfalls eine wichtige Rolle. In T 26/85 (ABl. 1990, 22) lagen die anspruchsgemäßen Bereiche eines bestimmten Parameters innerhalb der weiter gesteckten Bereiche, die für denselben Parameter in einem Dokument des Stands der Technik angegeben waren. Die Kammer hielt es für eine realistische Methode, bei der Beurteilung der Neuheit einer Erfindung gegenüber dem Stand der Technik die Frage zu stellen, ob der Fachmann angesichts des technischen Sachverhalts die Anwendung der technischen Lehre des Stands der Technik im Überlappungsbereich ernsthaft in Betracht ziehen würde; muss diese Frage bejaht werden, so lässt dies auf mangelnde Neuheit schließen. Dies war jedoch in der betreffenden Sache nicht der Fall, da der Stand der Technik eine begründete Erklärung enthielt, die den Fachmann eindeutig davon abgehalten hätte, den Bereich unterhalb eines bestimmten Wertes zu benutzen; der sich überschneidende Bereich lag unter diesem Wert und wurde daher für neu befunden (s. auch T 255/91).
In T 447/92 vertrat die Kammer die Auffassung, dass die Entgegenhaltung nicht offenbarte, wann oder wie weit sich ein bewegliches Teil der beanspruchten Erfindung (ein Druckluftschalter) bewegte oder wie es einen Hebel am Zurückfedern hinderte. Eine Relativbewegung war weder beschrieben noch in den Zeichnungen dargestellt; darüber, wie die maßgeblichen Teile zusammenwirkten, konnten nur Vermutungen angestellt werden. Nach Ansicht der Kammer hätte es für den Fachmann zwar naheliegen können, dass Raste und Welle in der in den Ansprüchen des Streitpatents festgelegten Art und Weise zusammenwirkten; dies bedeute aber nur, dass die Offenbarung ihn so weit bringe, dass er den Rest selbst bewerkstelligen könne. Es bedeute nicht, dass das Dokument dem Fachmann den gesamten Weg bis hin zur betreffenden Erfindung aufzeige. Die Merkmale des Druckluftschalters gemäß Anspruch 1 der Anmeldung seien somit nicht eindeutig aus den Zeichnungen einer älteren europäischen Patentanmeldung herzuleiten.
In T 310/88 hatte sich die Beschwerdekammer mit einer Divergenz zwischen der technischen Realität und der Erfindungsbeschreibung in einer Vorveröffentlichung auseinander zu setzen. Die Kammer hielt dennoch die Vorveröffentlichung für nicht neuheitsschädlich, da sie keine hinreichend deutliche Lehre enthalte, die eine solche Feststellung rechtfertige (s. T 23/90).
In T 491/99 entschied die Kammer, dass eine vorveröffentlichte Patentschrift, die das beanspruchte Erzeugnis auf den ersten Blick aufgrund der verwendeten Begriffe vorwegzunehmen scheint, dessen Patentierbarkeit nicht berührt, wenn der Fachmann die betreffende Erfindung nur im Nachhinein anhand des Verfahrens und der Vorrichtung, wie sie erstmals im europäischen Patent beschrieben sind, tatsächlich ausführen kann.
In T 1437/07 hob die Kammer hervor, dass eine Offenbarung in einem Dokument aus dem Stand der Technik nur dann neuheitsschädlich ist, wenn die darin enthaltene Lehre nacharbeitbar ist. Dieses Erfordernis einer ausreichenden Offenbarung entspricht dem in Art. 83 EPÜ verankerten Grundsatz. Die Anforderungen für eine ausreichende Offenbarung sind somit für ein Dokument aus dem Stand der Technik und ein Patent identisch. Die Kammer folgte den Grundsätzen, die die Rechtsprechung zur Bewertung der Erfordernisse des Art. 83 EPÜ bei einer medizinischen Verwendung entwickelt hat, nämlich dass der Fachmann nicht nur in der Lage sein soll, die Lehre des Dokuments aus dem Stand der Technik auszuführen, sondern dass es auch glaubhaft sein muss, dass die Wirkung – hier die Schmerzlinderung – erzielt worden ist (s. T 491/08).
In T 578/12 bestritt der Beschwerdeführer, dass Anspruch 1 des Hauptantrags angesichts des Stands der Technik D1, einer australischen Patentanmeldung, nicht neu sei; sein Hauptargument war, dass D1 keine Zeichnungen und keine Beschreibung einer detaillierten Ausführungsform eines Warenautomaten enthalte und nicht als nacharbeitbare Offenbarung betrachtet werden könne. Die Kammer stellte unter anderem Folgendes fest: die Tatsache, dass D1 keine Abbildungen enthielt, hinderte den Fachmann nicht daran, das beschriebene Verfahren zu verstehen oder auszuführen. Dieser Fall ist ein Beispiel für eine ausführliche Begründung der Prüfung von im Dokument des Stands der Technik offenbarten Merkmalen.
In T 1457/09 war Anspruch 4 als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung abgefasst. In der angefochtenen Entscheidung hatte die Einspruchsabteilung die Auffassung vertreten, dass der Gegenstand dieses Anspruchs durch das zur Zwischenliteratur gehörende Dokument (D1) vorweggenommen wurde. Ihres Erachtens offenbarten beide Dokumente (D1) und (D1a, das Prioritätsdokument zu D1) pharmazeutische Zubereitungen, die das Peptid RMFPNAPYL enthielten, sowie ihre Verwendung als Krebsimpfstoff. Die Kammer stellte Folgendes fest: Damit das Erfordernis der Nacharbeitbarkeit bei einer medizinischen Verwendung als erfüllt gilt, muss aufgrund der Offenbarung in dem Dokument des Stands der Technik glaubhaft sein, dass die therapeutische Wirkung, die der offenbarten Behandlung zugrunde liegt, erzielt werden kann (T 609/02). Ein Dokument des Stands der Technik ist nur dann neuheitsschädlich, wenn darin nicht nur das im Anspruch bezeichnete Erzeugnis – hier RMFPNAPYL – für die beanspruchte therapeutische Anwendung – hier die Behandlung von Krebs – offenbart wird, sondern sich das beanspruchte Erzeugnis auch tatsächlich für die beanspruchte therapeutische Anwendung eignet. Die Kammer stellte fest, dass die in Dokument (D1a) offenbarten Versuchsergebnisse nicht ausreichten, um glaubhaft zu machen, dass sich das RMFPNAPYL-Peptid für die Behandlung von Krebs eignet. Dokument (D1) war daher für den Gegenstand von Anspruch 4 nicht neuheitsschädlich.
- T 438/19
Catchword:
The following questions are referred to the Enlarged Board of Appeal for decision:
1. Is a product put on the market before the date of filing of a European patent application to be excluded from the state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC for the sole reason that its composition or internal structure could not be analysed and reproduced without undue burden by the skilled person before that date? 2. If the answer to question 1 is no, is technical information about said product which was made available to the public before the filing date (e.g. by publication of technical brochure, non-patent or patent literature) state of the art within the meaning of Article 54(2) EPC, irrespective of whether the composition or internal structure of the product could be analysed and reproduced without undue burden by the skilled person before that date? 3. If the answer to question 1 is yes or the answer to question 2 is no, which criteria are to be applied in order to determine whether or not the composition or internal structure of the product could be analysed and reproduced without undue burden within the meaning of opinion G 1/92? In particular, is it required that the composition and internal structure of the product be fully analysable and identically reproducible?
- T 939/22
Zusammenfassung
In T 939/22 claim 1 of the main request was directed to "(a( vaccine comprising a recombinant nonpathogenic Marek's Disease Virus (rMDVnp) comprising a first nucleic acid (…) and wherein the rMDVnp is a recombinant herpesvirus of turkeys (rHVT)." The construction of rMDVnp was relevant for assessing novelty over D8.
The definition of rMDVnp in the description (page 7, lines 19 to 20 of the patent in suit) stated that the term rMDVnp referred to a rMDVnp that included heterologous nucleotide sequences (i.e. sequences from pathogens other than MDV). In other words, the definition in the description equated the term rMDVnp to a specific recombinant vector with inserts of nucleotide sequences encoding proteins from other pathogens. According to the board, this definition could not change the common understanding of the terms of art rMDVnp and rHVT as used in claim 1 nor was this definition consistent with how a skilled person would understand the claim. Indeed, the skilled person would understand the terms rMDVnp and rHVT as used in claim 1 to refer to the genome of a viral vector stemming from a non-pathogenic strain of an MDV serotype. No further limitations were implied by the terms rMDVnp and rHVT. The skilled person would not understand the term rHVT to exclude viral vectors in which a specific region of the genome of HVT (which is MDV serotype 3, i.e. MDV3) has been replaced by the corresponding region of a different MDV serotype, as is the case for novel avian herpesvirus (NAHV). Of course, claim 1 further required that nucleotide sequences of at least two specified pathogens other than MDV, i.e. Newcastle disease virus (NDV) and infectious laryngotracheitis virus (ILTV), be inserted into the rMDVnp/rHVT vector. Hence, the claim was directed to a construct formed by the rMDVnp/rHVT vector and inserts of nucleotide sequences from other pathogens.
The board held that the exclusion of viral constructs comprising nucleotide sequences from different MDV serotypes from the term MDVnp (page 7, lines 14 to 17 of the patent in suit) was in line with how the skilled person would understand the term MDVnp, as it did not include recombinant viral constructs but referred only to the naturally occurring viruses. Claim 1, however, was specifically directed to a vaccine comprising a recombinant non-pathogenic MDV (rMDVnp), specifically rHVT. Even if the definition of MDVnp in the description were intended to include rMDVnp in a way that excluded chimeric viruses, this could not change the skilled person's understanding of the terms rMDVnp and rHVT.
In the board's view, excluding chimeric viruses from the claimed subject-matter appeared contradictory for the following reasons. The term chimeric virus, as understood by the skilled person, related to a specific type of recombinant virus that contains genetic material from different viruses within a single viral genome construct. This typically implied that the resulting viral construct exhibits characteristics derived from each of the parental viruses. Accordingly, inserting nucleotide sequences of NDV and ILTV into the rHVT vector as claimed resulted in a chimeric virus. Therefore, chimeric viruses could not be excluded from the subject-matter of claim 1, let alone a (recombinant) NAHV that included nucleotide sequences from NDV and ILTV.
The board also noted that, due to the comprising language, claim 1 did not exclude that the rMDVnp could be engineered to comprise additional nucleic acid inserts encoding antigens of pathogens other than NDV and ILTV.
It was clear from the wording and structure of claims 3, 4, 9 and 11 that the inventors of D8 had envisaged both (i) a multivalent vaccine that was a mixture of different NAHV constructs, each encoding a separate foreign gene (claim 19), and (ii) a multivalent vaccine based on a single NAHV construct encoding a plurality of foreign genes (claim 11, to which vaccine claim 18 refers). A multivalent vaccine encoding more than one heterologous antigen was furthermore addressed in several passages of the description. D8 provided detailed instructions on how to prepare the recombinant chimeric virus and clear protocols on how to test them for their suitability as vaccines. Thus, sufficient information was provided to enable the skilled person to produce and test a composition suitable as a multivalent vaccine as defined in claim 18 of D8.
In addition, it was credible that a recombinant MDV comprising more than one insert from two different heterologous viruses in the non-essential US2 site, encoding thus one additional foreign antigen to those tested in Examples 1 to 3 of D8, could be prepared and would provide protection by preventing or reducing the severity of a disease caused by at least one of the viruses whose antigens were encoded by the recombinant MDV construct.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”