9.2.11 Beurteilung von Merkmalen, die sich auf mathematische Algorithmen beziehen
In T 1227/05 (ABl. 2007, 574) kam die Kammer zu dem Schluss, dass die beanspruchte numerische Simulation eines rauschbehafteten Schaltkreises, der durch ein Modell, das Eingangskanäle, Rauscheingangskanäle und Ausgangskanäle aufweist, und ein System von Differenzialgleichungen oder Algebra-Differenzialgleichungen beschrieben wird, ein funktionales technisches Merkmal ist. Diese Simulation stellte einen hinreichend bestimmten technischen Zweck eines computergestützten Verfahrens dar, das auf den technischen Zweck funktional beschränkt war. Wie die Kammer befand, sind die konkreten technischen Anwendungen computergestützter Simulationsverfahren selbst als moderne technische Verfahren anzusehen, die einen wesentlichen Bestandteil des Fabrikationsprozesses darstellen und der materiellen Herstellung in der Regel als Zwischenschritt vorausgehen. In diesem Sinne kann derartigen Simulationsverfahren eine technische Wirkung nicht abgesprochen werden, nur weil sie noch nicht das materielle Endprodukt umfassen.
In G 1/19 betraf die Erfindung ein Verfahren zum Testen einer modellierten Umgebung – durch Simulation – in Bezug auf die Bewegung einer Fußgängermenge. Die Große Beschwerdekammer beantwortete die ihr vorgelegten Rechtsfragen wie folgt:
Für die Zwecke der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit kann eine computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens, die als solche beansprucht wird, durch Erzeugung einer technischen Wirkung, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht, eine technische Aufgabe lösen.
Für diese Beurteilung ist es keine hinreichende Bedingung, dass die Simulation ganz oder teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen.
Die erste und zweite Frage sind auch dann nicht anders zu beantworten, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht wird, insbesondere für die Überprüfung eines Entwurfs.
Bei der Würdigung der bestehenden Rechtsprechung zu Simulationen stimmte die Große Beschwerdekammer mit den Feststellungen in T 1227/05 und T 625/11 überein, wenn sie so verstanden werden, dass die beanspruchten Simulationsverfahren in diesen konkreten Fällen eine dem Wesen nach technische Funktion besitzen. Sie sah auch keine Notwendigkeit, in jedem Fall eine direkte Verbindung zur (externen) physischen Realität zu fordern. Sie befand allerdings, dass bei der Betrachtung potenzieller oder lediglich berechneter technischer Wirkungen nach dem COMVIK-Ansatz eher strikte Beschränkungen gelten (T 641/00). Der Ansatz aus T 1227/05, wonach die Simulation einen hinreichend bestimmten technischen Zweck für ein numerisches Simulationsverfahren darstellt, wenn Letzteres auf diesen technischen Zweck funktional beschränkt ist, sollte nicht als ein allgemein geltendes Kriterium des COMVIK-Ansatzes für computerimplementierte Simulationen verstanden werden, denn die Feststellungen in T 1227/05 beruhten auf konkreten, eben nicht allgemeingültigen Umständen. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer ist der COMVIK-Ansatz für die Beurteilung computerimplementierter Simulationen geeignet. Wie alle anderen computerimplementierten Erfindungen auch, können numerische Simulationen patentierbar sein, wenn die erfinderische Tätigkeit auf Merkmale gestützt werden kann, die zum technischen Charakter des beanspruchten Simulationsverfahrens beitragen. Wird der COMVIK-Ansatz auf Simulationen angewendet, so geben nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die zugrunde liegenden Modelle Grenzen vor, die technischer oder nichttechnischer Art sein können. Was die Simulation selbst angeht, sind diese Grenzen nichttechnisch. Sie können aber zur Technizität beitragen, wenn sie z. B. Anlass zur Anpassung des Computers oder seiner Funktionsweise geben oder die Grundlage für eine weitere technische Verwendung der Ergebnisse der Simulation bilden (z. B. für eine Verwendung mit Auswirkungen auf die physische Realität). Um zu vermeiden, dass für nicht patentierbare Gegenstände Patentschutz gewährt wird, muss diese weitere Verwendung zumindest implizit im Anspruch angegeben sein. Dasselbe gilt für etwaige Anpassungen des Computers oder seiner Funktionsweise. Dieselben Überlegungen gelten auch für Simulationen, die als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht werden. Ein Entwurfsverfahren ist normalerweise eine kognitive Tätigkeit. Doch lässt sich laut Großer Beschwerdekammer nicht ausschließen, dass es in Zukunft Fälle geben wird, in denen Schritte innerhalb eines Entwurfsverfahrens Simulationen umfassen, die zum technischen Charakter der Erfindung beitragen.
Zu Frage 1 schloss die Große Beschwerdekammer, dass keine Gruppe computerimplementierter Erfindungen von vornherein vom Patentschutz ausgeschlossen werden kann. Der COMVIK-Ansatz erfordert eine Beurteilung des technischen Beitrags der einzelnen Merkmale von computerimplementierten Erfindungen. Wie jedes andere computerimplementierte Verfahren kann auch eine Simulation ohne eine Ausgabe, die eine direkte Verbindung zur physischen Realität hat, trotzdem eine technische Aufgabe lösen (s. auch T 489/14 vom 26. November 2021 date: 2021-11-26).
Zu Frage 2 schloss die Große Beschwerdekammer, dass mit dem COMVIK-Ansatz etabliert worden ist, dass – je nach technischem Kontext – Merkmale, die per se nichttechnisch sind, trotzdem zum technischen Charakter einer beanspruchten Erfindung beitragen können, genauso wie umgekehrt Merkmale, die per se technisch sind, nicht zwangsläufig dazu beitragen müssen. Vor diesem Hintergrund war die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass es weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung ist, dass eine numerische Simulation zumindest teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen.
Zu Frage 3 sah die Große Beschwerdekammer keine Notwendigkeit, besondere Regeln anzuwenden, wenn eine Simulation als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht wird.
In T 625/11 war der Erfindungsgegenstand ein Verfahren zum Bestimmen mindestens eines Grenzwerts für einen Betriebsparameter eines Kernreaktors, das eine bessere Nutzung der Reaktorkapazität ermöglichen sollte. Der Kammer zufolge verleiht die Ermittlung eines Grenzwerts für den ersten Betriebsparameter dem Anspruch einen technischen Charakter, der über die bloße Interaktion zwischen dem Algorithmus der numerischen Simulation und dem IT-System hinausgeht. Der so definierte Parameter sei tatsächlich eng verbunden mit dem Betrieb eines Kernreaktors, unabhängig davon, ob dieser Parameter in einem Reaktor faktisch genutzt werde oder nicht. Damit erkannte die Kammer die in T 1227/05 (ABl. 2007, 574) entwickelte Analyse als relevant an.
- T 1768/20
Catchword: see reasons 4.7 for exceptional cases in the sense of points 98 and 128 of G 1/19
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”