4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
In T 421/14 erinnerte die Kammer daran, dass der übliche Beweismaßstab nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern das generelle Abwägen der Wahrscheinlichkeit ist. Der strengere Beweismaßstab "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" ist in Ausnahmefällen einer offenkundigen Vorbenutzung angewandt worden, wenn alle Beweismittel der Verfügungsmacht und dem Wissen des Einsprechenden unterlagen. Die Frage der öffentlichen Vorabpräsentation von Postern und Präsentationen wurde in der Regel gemäß den Erfordernissen für die offenkundige Vorbenutzung beurteilt. Im vorliegenden Fall handelte es sich bei den Dokumenten C30 (Poster) und C31 (Präsentation) um eigene Dokumente des Patentinhabers.
In T 1210/05 befand die Kammer, dass die umstrittene frühere Offenbarung durch die öffentliche Zurschaustellung eines Posters auf einem Kongress in Edinburgh, welches mit dem Dokument (1) identisch war, aus folgenden Gründen nicht ausreichend, d. h. nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen worden sei: Dass die verschiedenen Beweismittel, nämlich die vorgelegten Dokumente, die affidavits der Zeugen und deren mündliche Aussagen sich nicht widersprächen, sei für das erforderliche Beweismaß nicht ausreichend. Außerdem beruhe die Feststellung der Einspruchsabteilung ausschließlich auf der Aussage eines der Zeugen, die durch keinen unabhängigen Beweis (schriftlich oder von anderen Personen) gestützt werde. Dies bedeute nicht, dass die schriftliche und mündliche Aussage des Zeugen an sich nicht ausreichend sei. Die Kammer erklärte jedoch, dass es gute Gründe geben müsse, um diesen Beweis allein als Grundlage dafür anzusehen, dass die Fakten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt wurden. S. auch T 729/05 in Bezug auf ein Poster; die Beweismittel für die Offenbarung waren in der Sphäre des Patentinhabers zu finden.
In T 2338/13, die ebenfalls die Offenbarung von Informationen aus einem bei einer Konferenz aufgehängten Poster betraf, war das wichtigste Beweismittel A3 (Kopie einer PowerPoint-Präsentation) für die angebliche Vorbenutzung im Besitz des Zeugen, der von einem anonymen Freund kontaktiert worden war. Letzterer wurde vom Beschwerdeführer (Einsprechenden) als Dritter bezeichnet. Da sich der Beschwerdeführer außerstande sah anzugeben, in welcher Beziehung der Zeuge, der Dritte und er selbst zueinander standen, befand die Kammer, dass dieses Informationsdefizit von ihm zu vertreten und daher das wichtigste Beweismittel – A3 – als im Besitz des Beschwerdeführers befindlich anzusehen war. Gleichzeitig wurde davon ausgegangen, dass der Zeuge zum Umfeld des Beschwerdeführers gehörte. Somit oblag es dem Beschwerdeführer (Einsprechenden), zweifelsfrei nachzuweisen, dass der Inhalt von A3 der Öffentlichkeit zugänglich war. Zwar war bezüglich der Umstände der Offenbarung des Inhalts von A3 erwiesen, dass diese in Form eines Posters erfolgt war, doch ließen die Unterschiede zwischen dem Inhalt der eidesstattlichen Versicherungen und den mündlichen Erklärungen des Zeugen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Zeugenaussage aufkommen. Der Beschwerdeführer hatte keinen lückenlosen Nachweis erbracht, sodass die Kammer das Dokument A3 bei der Beurteilung der Patentierbarkeit nicht berücksichtigte.
T 1057/09 betrifft den Fall einer angeblich im Rahmen eines mündlichen Vortrags offenbarten Diplomarbeit (flüchtige Natur – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit).
Im Verfahren T 1212/97 brachte der Einsprechende vor, die Erfindung sei der Öffentlichkeit in einem Vortrag zugänglich gemacht worden, der einige Tage vor dem Prioritätstag vor rund hundert bis zweihundert Personen gehalten worden sei. Es galt zu klären, ob es einen sicheren und ausreichenden Beweis für den der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Informationsgehalt des Vortrags gab. Nach Ansicht der Kammer genügte die Aussage des Vortragenden allein nicht, um nachzuweisen, was der Öffentlichkeit im Rahmen des Vortrags zugänglich gemacht worden war. Selbst ein Tonband- oder Videomitschnitt eines Vortrags wäre mit Vorsicht zu behandeln, wenn mehrfaches Anhören oder Ansehen erforderlich wäre, um den gesamten Informationsgehalt zu erfassen (s. auch T 428/13 und T 2003/08 vom 31. Oktober 2012 date: 2012-10-31).
In T 2003/08 vom 31. Oktober 2012 date: 2012-10-31 hielt die Kammer fest, dass anders als bei einem schriftlichen Dokument, dessen Inhalt fixiert ist und immer wieder gelesen werden kann, eine mündliche Präsentation flüchtiger Natur ist. Das Beweismaß, das erforderlich ist, um den Inhalt einer mündlichen Offenbarung festzustellen, ist deshalb hoch. Die Entscheidung T 1212/97 kann nicht so interpretiert werden, dass sie einen absoluten Standard für das Beweismaß festsetzt, das zum Nachweis des Inhalts einer mündlichen Offenbarung erforderlich ist. Im vorliegenden Fall jedoch betrachtete die Kammer die Beweise des Referenten und eines Zuhörers in Form eidesstattlicher Erklärungen und mündlicher Aussagen nicht als zweifelsfreien Nachweis dafür, dass der Gegenstand des Anspruchs während des Vortrags offenbart worden ist (s. auch T 12/01 zu Vorträgen; T 667/01, wonach eine Erklärung des Referenten zum Inhalt seiner mündlichen Präsentation in der Regel nicht ausreicht, und T 1057/09 zur behaupteten Zugänglichkeit einer "Diplomarbeit", deren Inhalt angeblich unter anderem in einem Vortrag vor dem Prioritätstag des Streitpatents offenbart wurde).
Auf T 1212/97 berief sich auch der Beschwerdegegner (Patentinhaber) in T 421/14, der argumentierte, dass sowohl das Poster C30 als auch die Präsentation C31 "flüchtige" mündliche Präsentationen einschlössen und somit laut T 1212/97 der Beweismaßstab für die Feststellung des Inhalts der mündlichen Offenbarung ein strengerer sein müsse. Die Kammer fand dieses Argument nicht überzeugend, zumindest nicht für das Poster (mit seinem gedruckten und daher nicht flüchtigen Inhalt), denn T 1212/97 hatte sich mit dem angeblichen Informationsgehalt eines mündlichen Vortrags ohne schriftliche Begleitunterlagen in Form eines Manuskripts, eines Handouts oder einer späteren Veröffentlichung befasst. Die eigene Erklärung des Beschwerdegegners ließ wenig Zweifel daran aufkommen, dass C30 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war; der Beschwerdegegner hätte nachweisen müssen, dass dem nicht so war. Dafür legte er keine Beweismittel aus erster Hand vor, und sein Vorbringen war spekulativ und nicht überzeugend. Nach generellem Abwägen der Wahrscheinlichkeit erachtete die Kammer C30 als Stand der Technik. Anders verhielt es sich bei der Präsentation C31; die Akte enthielt kein Beweismittel dafür, dass C31 auf der Konferenz in gedruckter Form verteilt worden wäre oder alle Folien einem Publikum gezeigt worden wären (keine Beweise für die Art oder Geschwindigkeit der mündlichen Präsentation). Ungeachtet des anzulegenden Beweismaßstabs konnte der Inhalt von C31 also nicht dem Stand der Technik zugerechnet werden.
In T 843/15 entschied die Kammer, dass die Kopie einer PowerPoint-Präsentation (D22) den Inhalt der Präsentation zwar vermuten lässt, aber für sich genommen keine ausreichende Gewähr dafür ist, dass der Inhalt der Präsentation vollständig bzw. verständlich präsentiert wurde. In der Regel sind deshalb zusätzliche Beweismittel erforderlich, wie etwa Erklärungen oder schriftliche Notizen der Zuhörer oder eine an die Zuhörer verteilte Kopie.
In T 335/15 wurde entschieden, dass der Inhalt des Dokuments E10.2 (PowerPoint-Präsentation) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden war. Die Kammer erklärte, dass in T 843/15 zwar ähnliche Fragen behandelt worden waren, allerdings unter anderen Umständen. Anders als dort hatte nämlich der Vortragende im vorliegenden Fall bestätigt, dass er alle Folien seines Vortrags gezeigt hatte. Zudem bezog sich die PowerPoint-Präsentation im vorliegenden Fall auf ein wenig komplexes technisches Thema, und der Gegenstand der gezeigten Fotografien ließ sich auf den ersten Blick erfassen. Die ebenfalls angezogene Entscheidung T 1553/06 betraf die Frage, ob ein Dokument mit einer bestimmten URL für einen ausreichend langen Zeitraum zugänglich war, und bezog sich somit auf Internet-Veröffentlichungen und nicht auf einen Vortrag vor einem Fachpublikum, weswegen sie nach Auffassung der Kammer für den vorliegenden Fall nicht relevant war. Außerdem hatte der Patentinhaber verschiedene Zweifel am Ablauf des Vortrags geäußert, doch die Kammer entschied, dass er weitere Beweismittel zur Stützung seiner Behauptungen hätte vorlegen müssen und eine bloße Anfechtung nicht genügte.
In der Sache T 1625/17 gelangte die Kammer ausgehend von allen Tatsachen und Beweismitteln zu der Überzeugung, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen war, dass die Präsentationsfolien dem Publikum und somit der Öffentlichkeit als Handout zur Verfügung gestellt worden waren, wie es auch aus der (eidesstattlichen) Erklärung des Vortragenden hervorging. Die Sachlage war eine andere als in den von den Beteiligten angeführten Fällen T 1212/97 und T 667/01, wo es um die Ermittlung des Inhalts mündlicher Vorträge ohne einen an die Teilnehmer verteilten Handout ging.