8.1. Bestimmung des Fachmanns
Nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern umfasst der Begriff des Fachmanns einen erfahrenen Mann der Praxis, der über durchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt und der darüber unterrichtet ist, was zu einem bestimmten Zeitpunkt zum allgemein üblichen Wissensstand auf dem betreffenden Gebiet gehört (Durchschnittsfachmann). Es ist auch zu unterstellen, dass der Fachmann zu allem, was zum Stand der Technik gehört, insbesondere den im Recherchenbericht angegebenen Dokumenten, Zugang hatte und über die normalen Mittel und Fähigkeiten für routinemäßige Arbeiten und Versuche verfügte (Richtlinien G‑VII, 3 – Stand März 2022). Er ist ein Fachmann auf einem technischen Gebiet (T 641/00, ABl. 2003, 352). In T 39/93 (ABl. 1997, 134) wurde ausgeführt, dass in allgemein anerkannten Definitionen des Begriffs "Fachmann" dessen Eigenschaften zwar nicht immer mit denselben Formulierungen beschrieben werden, sie aber eines gemeinsam haben: Keine deutet an, dass der Fachmann über erfinderische Fähigkeiten verfügt. Das Vorhandensein genau solcher Fähigkeiten unterscheidet den Erfinder nämlich vom sogenannten Fachmann.
In T 1462/14 verwies die Kammer darauf, dass der Fachmann eine fiktive Person ist, die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern als objektive Referenz bei der Entscheidung verschiedener Fragen im Rahmen des EPÜ entwickelt worden ist. Diese fiktive Person kann keiner realen Person auf dem technischen Gebiet der Erfindung gleichgesetzt werden – keinem Erfinder, keinem Einsprechenden, keinem Prüfer und auch keinem Mitglied einer Beschwerdekammer. Dies gilt auch für den Vertreter.
Zur Definition des Fachmanns fasste die Kammer in T 26/98 (bestätigt in T 1523/11) folgende Grundsätze zusammen, die die Beschwerdekammern im Allgemeinen anwenden: Gibt die Aufgabe dem Fachmann den Hinweis, die Lösung auf einem anderen technischen Gebiet zu suchen, so ist der Fachmann dieses Gebiets der zur Aufgabenlösung berufene Fachmann. Daher sind das Wissen und Können dieses Fachmanns bei der Beurteilung, ob die Lösung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, zugrunde zu legen (s. dazu T 32/81, ABl. 1982, 225; T 141/87; T 604/89 vom 15. November 1990 date: 1990-11-15; T 321/92). Vom Fachmann kann erwartet werden, dass er sich auf Nachbargebieten nach Anregungen umsieht, wenn sich dort die gleichen oder ähnliche Probleme stellen. Vom Fachmann kann erwartet werden, dass er sich auf einem allgemeinen technischen Gebiet nach Anregungen umsieht, wenn ihm solche Gebiete geläufig sind. Bei technisch anspruchsvollen Gebieten kann als zuständiger "Fachmann" auch eine Gruppe von Fachleuten auf den einschlägigen Fachgebieten gelten. Lösungen allgemeiner technischer Aufgaben auf nichtspezifischen (allgemeinen) Gebieten sind als Teil des technischen Allgemeinwissens anzusehen.
In T 1464/05 stellte die Kammer fest, dass es nach gängiger Lehrmeinung davon auszugehen ist, dass dem in Art. 56 EPÜ 1973 genannten Durchschnittsfachmann die Gesamtheit des Stands der Technik auf dem betreffenden technischen Gebiet und insbesondere alles das bekannt ist, was der Öffentlichkeit im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ 1973 zugänglich gemacht worden ist. Die verschiedenen Mittel, mit denen der Stand der Technik der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sind gleichrangig. Vom Durchschnittsfachmann wird angenommen, dass ihm alle der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Merkmale der strittigen Vorbenutzung bekannt sind. Obwohl es unrealistisch wäre, anzunehmen, dass alle fachkundigen Mitglieder der interessierten Öffentlichkeit die durch die Vorbenutzung öffentlich zugänglich gemachten Merkmale gekannt hätten, wird also durch den Begriff des Fachmanns gemäß Art. 56 EPÜ 1973 sichergestellt, dass jede naheliegende Entwicklung oder Anwendung der Merkmale der offenkundigen Vorbenutzung durch ein bestimmtes fachkundiges Mitglied der interessierten Öffentlichkeit, das von den durch Vorbenutzung öffentlich zugänglich gemachten Merkmalen Kenntnis erlangt hat, gemäß Art. 56 EPÜ 1973 auch als solche behandelt wird, d. h. als naheliegend gegenüber dem Stand der Technik, unabhängig davon, ob anderen Mitgliedern der interessierten Öffentlichkeit die Merkmale der Vorbenutzung tatsächlich bekannt sind.
In T 1030/06 betraf die Anmeldung ein System und Verfahren zum sicheren Zwischenspeichern von Inhalten. Der Kammer zufolge handelt es sich beim Fachmann um einen Durchschnittsfachmann, der also nicht nur Zugang zum Stand der Technik und zum allgemein üblichen Wissensstand auf dem betreffenden Gebiet hat, sondern auch über die Fähigkeit zu routinemäßigen Arbeiten und Versuchen verfügt. Somit konnte vom Fachmann erwartet werden, dass er nach Lösungen sucht und Entscheidungen trifft, um anstehende Konstruktionsaufgaben zu lösen.
In T 1761/12 befand die Kammer die Sichtweise für zu formell, dass der in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelte Aufgabe-Lösungs-Ansatz die Fragestellung nicht vorsehe, ob es notwendig ist, Merkmale beizubehalten, die sich nicht vom nächstliegenden Stand der Technik unterscheiden. Über den dem Fachmann allgemein zugeschriebenen bloßen Mangel an Fantasie hinaus scheine diese Haltung ihm auch die Fähigkeit abzusprechen, Schlussfolgerungen aus einer Information zu ziehen, die sich direkt aus dem Stand der Technik ergibt.
Nach T 422/93 (ABl. 1997, 25) ist bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nach dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz für die Bestimmung des maßgebenden Fachmanns – unabhängig davon, ob in dem betreffenden Patent eine andere Definition des Fachmanns gegeben wird – auf die technische Aufgabe abzustellen, die ausgehend von der Offenbarung im nächstliegenden Stand der Technik gelöst werden soll. Da die technische Aufgabe einer Erfindung so zu formulieren ist, dass sie keine Lösungsansätze enthält, kann – wenn die Formulierung der Aufgabe und der Lösungsvorschlag unterschiedlichen technischen Gebieten zuzuordnen sind – als Fachmann nicht der Experte desjenigen technischen Gebiets berufen sein, auf dem die vorgeschlagene Lösung angesiedelt ist. Auch umfasst das allgemeine Fachwissen des maßgebenden Fachmanns keine Spezialkenntnisse auf dem anderen technischen Gebiet, auf dem die vorgeschlagene Lösung angesiedelt ist, wenn der nächstliegende Stand der Technik keinerlei Hinweis darauf enthält, dass die Lösung dort zu suchen ist.
In T 1450/16 folgte die Kammer den Schlussfolgerungen aus T 422/93. Nach Auffassung der Kammer kommt der Fachmann nach Art. 56 EPÜ erst ins Spiel, wenn die objektive technische Aufgabe bereits formuliert worden ist. Der Fachmann nach Art. 56 EPÜ ist somit die Person, die zur Lösung der festgelegten objektiven technischen Aufgabe berufen ist (s. z. B. T 32/81, ABl. 1982, 225; T 26/98; T 1523/11), und nicht zwingend die Person, die auf dem Gebiet der zugrunde liegenden Anmeldung oder des ausgewählten nächstliegenden Stands der Technik versiert ist.
In T 25/13 stellte die Kammer fest, dass der Einsprechende zwar den Ausgangspunkt (hier D4) grundsätzlich frei wählen kann, doch hat diese Wahl in der Folge Implikationen hinsichtlich des zu berücksichtigenden Fachwissens. Die Kammer kam zu dem Schluss, dass man als Fachmann entweder den Experten auf dem technischen Gebiet der Erfindung (Kraftfahrzeugtechnologie) wählen kann, der das aus einem ganz anderen Fachgebiet (Wäschetrockner) stammende Dokument D4 nicht herangezogen hätte, oder aber D4 als Ausgangspunkt wählen kann, was tatsächlich impliziert, dass der in Betracht zu ziehende Fachmann der Experte auf dem Gebiet der Haushaltsgeräte ist, für den die Lösung nicht naheliegend war.