2.7. Rechtliches Gehör bei Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung
Die Große Beschwerdekammer kam in ihrer Stellungnahme G 4/92 (ABl. 1994, 149), die sich ausdrücklich auf mehrseitige Verfahren beschränkte, zu dem Ergebnis, dass eine Entscheidung zuungunsten eines Beteiligten, der trotz ordnungsgemäßer Ladung der mündlichen Verhandlung ferngeblieben ist, nicht auf erstmals in dieser mündlichen Verhandlung vorgebrachte Tatsachen gestützt werden darf. In der mündlichen Verhandlung erstmals vorgebrachte Beweismittel können nur berücksichtigt werden, wenn sie vorher angekündigt waren und lediglich die schon bekannten Behauptungen des Beteiligten bestätigen, der sich auf sie beruft. Hingegen können neue Argumente aufgegriffen werden, da es sich hier im Grunde genommen nicht um ein neues Vorbringen als solches handelt, sondern um eine Untermauerung der bereits vorgebrachten Tatsachen und Rechtsgründe. Bezüglich der neuen Argumente sind die Erfordernisse des Art. 113 (1) EPÜ auch dann erfüllt, wenn die Beteiligten aufgrund ihres freiwilligen Fernbleibens von der mündlichen Verhandlung keine Gelegenheit hatten, sich dazu zu äußern.
Nach Art. 15 (3) VOBK 2020 (vormals: Art. 11 (3) VOBK 2003, dann Art. 15 (3) VOBK 2007) ist die Kammer "nicht verpflichtet, einen Verfahrensschritt einschließlich ihrer Entscheidung aufzuschieben, nur weil ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend ist; dieser kann dann so behandelt werden, als stütze er sich lediglich auf sein schriftliches Vorbringen". In den vorbereitenden Dokumenten zu dieser Vorschrift (ursprünglich in der VOBK 2003) heißt es, dass diese Bestimmung nicht im Widerspruch zum Grundsatz des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 113 (1) EPÜ steht, weil dieser Artikel lediglich die Möglichkeit der Anhörung eröffnet und ein Beteiligter durch das Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung darauf verzichtet (CA/133/02 vom 12. November 2002). Die Erwägungen in G 4/92 zum Fernbleiben von der mündlichen Verhandlung vor den Kammern sind durch diese Bestimmung der VOBK überholt (T 706/00). Insoweit, als G 4/92 die allgemeine Zulässigkeit neuer Argumente im Beschwerdeverfahren unterstützt, wurde diese Entscheidung zudem auch durch die Änderungen der VOBK mit Wirkung vom 1. Mai 2003 revidiert (die VOBK 2020 ist seit 1. Januar 2020 anwendbar), die die Einführung neuer Argumente in das Ermessen der Kammern stellen (T 1621/09, in der die frühere Rechtsprechung zusammengefasst ist). Für die erstinstanzlichen Organe gilt G 4/92 hingegen nach wie vor (s. Richtlinien E‑III, 8.3.3.2 – Stand März 2022). Zum Verfahren vor den Prüfungsabteilungen s. auch die im ABl. 2020, A124 veröffentlichte Mitteilung.
In T 2138/14 (Ex-parte-Verfahren) stellte die Kammer fest, dass gemäß ständiger Rechtsprechung der Anspruch eines nicht anwesenden Beteiligten auf rechtliches Gehör nach Art. 113 (1) EPÜ nicht ignoriert werden darf (s. in diesem Kapitel III.B.2.7). Diese Ansicht wurde per Analogie zur Stellungnahme G 4/92 bestätigt. Auch wenn G 4/92 explizit nur Inter-partes-Verfahren betraf, wurde dasselbe Prinzip auch in Ex-parte-Verfahren angewendet (s. in diesem Kapitel III.B.2.6.1).