3.3. Rechtliches Gehör
Es ist grundsätzlich keine korrekte Verfahrensweise, wenn die Einspruchsabteilung in einer streitigen und für den Rechtsbestand des angegriffenen Patents hoch relevanten Frage auf das Beweisangebot einer mündlichen Vernehmung eines Zeugen oder Beteiligten nicht eingeht, sondern – gleichsam als Ersatz – schriftliche Erklärungen einfordert und sich mit dem typischerweise minderen Beweiswert dieser Erklärungen begnügt. Besondere Umstände, die eine solche Verfahrensweise im Ausnahmefall rechtfertigen mögen, waren hier nicht ersichtlich (T 329/02).
In T 1363/14 stellte die Kammer fest, dass keine Vorschrift des EPÜ verlangt, dass das zu einer behaupteten Vorbenutzung gemachte Vorbringen innerhalb der Einspruchsfrist bereits bewiesen sein muss, damit die Vorbenutzung substantiiert wird. Es obliegt dem Einsprechenden, alle für eine behauptete Vorbenutzung relevanten Tatsachen vorzutragen. Für den Fall, dass diese nicht von der Gegenseite zugestanden werden, hat er auch vorsorglich geeignete Beweismittel anzubieten. Es liegt in der Natur eines Zeugenangebots, anzukündigen, dass die Zeugen die (zuvor bereits) vorgetragenen Tatsachen bestätigen werden. Dabei ist es nicht zulässig, im Rahmen einer vorweggenommenen Beweiswürdigung Mutmaßungen anzustellen, woran ein Zeuge sich wird erinnern können und woran nicht. Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist erst nach Erhebung der Beweismittel anwendbar und kann nicht zur Rechtfertigung verwendet werden, angebotene Beweise nicht zu erheben. Die Einspruchsabteilung hat mit ihrer Weigerung, die Zeugen zu laden, im Ergebnis somit willkürlich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass die Behauptungen des Einsprechenden durch die Zeugen bestätigt werden können. Eine derartig vorweggenommene Beweiswürdigung war nicht gerechtfertigt. S. auch T 2238/15.
Auch in T 906/98 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen (keine Zeugenvernehmung hinsichtlich einer Vorbenutzung anzuordnen) nach fehlerhaften Kriterien ausgeübt hat, weil sie bei der Zurückweisung des Beweisangebots mutmaßte statt zu prüfen. Das Beweisangebot bezog sich auf denjenigen Aspekt der behaupteten Vorbenutzung, der strittig war, nämlich den Gegenstand der Benutzung (d. h. was der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde).
In der Sache T 314/18 (angebliche offenkundige Vorbenutzung – mehrfacher Verkauf) wurde ein Zeuge angeboten, aber nicht gehört. Entgegen der Auffassung der Einspruchsabteilung hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) den Zeugen ausschließlich zur Bestätigung der Tatsachen angeboten, die er bezüglich der angeblichen Vorbenutzung bereits vorgebracht hatte. Nirgendwo im EPÜ wird ein überzeugender Nachweis der angeblichen Vorbenutzung innerhalb der Einspruchsfrist verlangt. Als die Einspruchsabteilung unter Berufung auf die Richtlinien argumentierte, dass das Fehlen einer ausreichenden Substanziierung der Vorbenutzung in der Einspruchsschrift nicht durch die Vernehmung des Zeugen kompensiert werden könne, vermengte sie das Vorbringen von Tatsachen mit dem Erbringen der zur Tatsachenfeststellung erforderlichen Nachweise. Indem sie die Vernehmung des angebotenen Zeugen ablehnte, war die Einspruchsabteilung de facto zur Bewertung von Beweismitteln geschritten, die zwar prima facie für die zu treffende Entscheidung relevant erschienen, aber noch nicht festgestellt waren. Dies war verfahrensrechtlich falsch; folglich hat die Einspruchsabteilung den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nach Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ verletzt.
In T 1647/15 verwies die Kammer darauf, dass gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und wie in T 142/97 erwähnt ein Entscheidungsorgan grundsätzlich verpflichtet ist, sich von der Relevanz vorgelegter Beweismittel zu überzeugen, bevor es über deren Zulassung oder Ablehnung entscheidet. Wenn relevante Merkmale der von den Einsprechenden als Stand der Technik angeführten Anhänger fraglich sind und strittig bleiben, ist ein Antrag der Einsprechenden auf Beweisaufnahme z. B. durch Vernehmung der von den Einsprechenden angebotenen Zeugen oder Inaugenscheinnahme des Anhängers gemäß Art. 117 (1) f) EPÜ nicht grundlos zurückzuweisen. Die Einspruchsabteilung hatte die Ablehnung der angebotenen Beweise auf bloße Vermutungen gestützt und nicht ernsthaft versucht, deren Inhalt oder Relevanz definitiv zu klären. Die Weigerung, die rechtzeitig vorgelegten Beweismittel in Betracht zu ziehen, stellt demnach eine Verletzung der grundlegenden Rechte einer Partei auf freie Wahl der Beweismittel und rechtliches Gehör dar (Art. 117 (1) und 113 (1) EPÜ).
In T 267/06 sei eine Situation hinsichtlich der Beurteilung der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung nach D12 (undatierte Zeichnung) eingetreten, in der die als weiteres Beweismittel angebotene Vernehmung des Zeugen nicht außer Betracht gelassen werden durfte. Dies stellte einen wesentlichen Verfahrensmangel dar (Art. 113 (1) EPÜ). Diese Entscheidung wurde in der davon abweichenden Entscheidung T 1231/11 angeführt. S. auch T 660/16.