3. Identität der Erfindung
Die Merkmale der Erfindung, die in der Prioritätsanmeldung offenbart sind, müssen auch die in der Nachanmeldung beanspruchte Erfindung kennzeichnen.
In T 1050/92 bot die Erfindungsoffenbarung in der Voranmeldung eine ausreichende Grundlage für das Ersetzen des dort verwendeten Begriffs "Flüssigkeitsabscheidezyklon" durch den allgemeineren "Luft/Flüssigkeits-Trenneinrichtung" in Anspruch 1 der europäischen Anmeldung.
In T 809/95 trugen die Einsprechenden vor, im erteilten Anspruch 1 sei das Merkmal "dünnwandig" nicht enthalten, das in der ersten Prioritätsanmeldung als wesentlich offenbart sei. Die Kammer vertrat die Auffassung, der erteilte Anspruch 1 gehe von einer "im Blasverfahren hergestellten, faltbaren" Kunststoff-Flasche aus, die Falten "zur Ermöglichung einer Volumenreduktion bei Ausübung eines auf die Wände von Hand ausgeübten Druckes" aufweise. Schon diese Beschreibung der Flasche impliziere die Notwendigkeit, dass die Flasche aus einem derart flexiblen dünnwandigen Kunststoff bestehe, dass sie im leeren Zustand von Hand faltbar sei, wie es der unabhängige Anspruch 3 der ersten Prioritätsanmeldung verlange.
In T 515/00 hatte der Beschwerdeführer angeführt, dass die Merkmale, die die Hardwarekomponenten im Zusammenhang mit dem Druckprozess beträfen, im Anspruch nunmehr fehlen würden und dass die Prioritätsunterlage keine Grundlage für die Streichung dieser Merkmale liefere. Die Kammer verwies zunächst auf die Stellungnahme G 2/98 (ABl. 2001, 413, Nr. 8.3 der Gründe), wo die Große Beschwerdekammer davor gewarnt hatte, einen Unterschied zwischen technischen Merkmalen, die mit der Funktion und der Wirkung der Erfindung in Zusammenhang stehen, und technischen Merkmalen zu machen, bei denen dies nicht der Fall ist. Die Priorität kann nicht zuerkannt werden, wenn ein Merkmal geändert oder gestrichen oder ein weiteres Merkmal hinzugefügt wird. Die Kammer stellte ferner fest, dass ein Anspruch den Prioritätstest besteht, wenn sein Gegenstand der früheren Anmeldung als Ganzes entnommen werden kann. Daraus folgt, dass der Vergleich des Anspruchs mit dem entsprechenden Anspruch der früheren Anmeldung kein zulässiges Vorgehen zur Durchführung des "Prioritätstests" ist. Der Prioritätstest ist im Grunde ein Offenbarungstest, bei dem der Fachmann sein allgemeines Fachwissen heranziehen kann. Wird in der Beschreibung der früheren Anmeldung ein Unterschied zwischen Merkmalen, die für die Ausführung der Erfindung wesentlich sind, und Merkmalen gemacht, bei denen dies nicht der Fall ist, so können Letztere aus dem Gegenstand eines Anspruchs gestrichen werden, ohne dass das Prioritätsrecht verloren geht. Die weggelassenen Hardwarekomponenten wurden an keiner Stelle in Erweiterung gegenüber der Beschreibung als wesentliche Merkmale dargestellt. Dass diese Komponenten in Anspruch 1 der Prioritätsunterlage enthalten waren, ist für den fachkundigen Leser kein hinreichender Grund anzunehmen, dass die Merkmale wesentlich seien. Die Kammer befand den Prioritätsanspruch für gültig. Dieser Entscheidung wurde in T 321/06 gefolgt.
In T 134/94 sprach die Kammer dem erteilten Anspruch 1 das Prioritätsrecht ab. Die Prioritätsunterlage offenbarte ein Verfahren, das unter bestimmten Bedingungen funktioniert, die als Merkmale a) bis d) bezeichnet waren. Die Erfordernisse a) und c) waren im erteilten Anspruch 1 nicht erwähnt. Die durch den erteilten Anspruch definierte Erfindung war nicht dieselbe wie die in der Prioritätsunterlage definierte. Nach Auffassung der Kammer habe die Meinung des Beschwerdegegners, dass der Prioritätsanspruch anerkannt werden sollte, wenn die Offenbarung der Prioritätsunterlage für die Ansprüche der späteren Anmeldung bzw. des späteren Patents neuheitsschädlich wäre ("Neuheitsprüfung"), weder im EPÜ noch in der Rechtsprechung des EPA eine Basis.
In T 552/94 fehlten im Anspruch 1 des Streitpatents die vier laut Prioritätsdokument zur Ausführung der Erfindung zwingend erforderlichen Merkmale a) bis d). Unter Hinweis auf T 134/94 und T 1082/93 stellte die Kammer fest, dass ohne diese Merkmale die im Anspruch 1 definierte Erfindung nicht dieselbe wie die im Prioritätsdokument beschriebene sein konnte, sodass das Erfordernis des Art. 87 (1) EPÜ 1973 nicht erfüllt war.
In T 59/11 kam die Kammer bei der Beurteilung des Erfordernisses "derselben" Erfindung gemäß den in G 2/98 (ABl. 2001, 413) entwickelten Kriterien zu dem Schluss, dass das Prioritätsdokument als Ganzes keine Grundlage für das Weglassen der Merkmale a bis d im strittigen Anspruch 1 bot. Sie wies die Argumentation des Patentinhabers zurück und wies darauf hin, dass eine dem betreffenden Anspruch und dem Prioritätsdokument gemeinsame Aufgabenstellung nicht ausschlaggebend dafür ist, ob eine Priorität wirksam beansprucht werden kann oder nicht. Ebenso wenig könne ein Prioritätsanspruch durch Ermittlung und Streichung von für die Lösung der gemeinsamen Aufgabe unwesentlichen Merkmalen begründet werden.
In T 250/12 führte die Kammer in Anlehnung an G 2/98 (ABl. 2001, 413, Nrn. 8.3 und 9 der Gründe) aus, dass der wesentliche Charakter eines Merkmals an sich kein geeignetes Kriterium für die Beurteilung der Gültigkeit eines Prioritätsanspruchs ist. Sie wandte den in G 2/98 für die Beurteilung des Erfordernisses "derselben Erfindung" entwickelten Standard an und stellte fest, dass jeder der unabhängigen Ansprüche der ersten Prioritätsanmeldung das beanstandete Merkmal der benachbarten Anordnung des dritten und zweiten Kontaktabschnitts (bzw. der entsprechenden Anschlüsse oder vorrichtungsseitigen Anschlüsse) enthielt. Darüber hinaus bot die Prioritätsanmeldung in ihrer Gesamtheit keine Grundlage für die Annahme, dass dieses Merkmal optional ist. Der Fachmann würde der ersten Prioritätsanmeldung ohne Weiteres entnehmen, dass das Merkmal Teil der darin offenbarten Erfindung ist. Da dieses Merkmal aus den vorliegenden unabhängigen Ansprüchen gestrichen wurde, war der Gegenstand dieser Ansprüche nicht klar und eindeutig aus der ersten Prioritätsanmeldung ableitbar, und der Prioritätsanspruch war nicht gültig.
S. auch z. B. T 1890/09.