6.3. Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können, und verspätet vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel – Regel 116 EPÜ
In T 755/96 (ABl. 2000, 174) stellte die Kammer fest, dass R. 71a EPÜ 1973 dem EPA ein Ermessen einräumt. Die Befugnis des EPA, verspätet vorgebrachte neue Tatsachen oder Beweismittel zuzulassen oder zurückzuweisen, sei eigentlich in Art. 114 (2) EPÜ 1973, und das Ermessen, neue Änderungsanträge zurückzuweisen, sei eigentlich in Art. 123 EPÜ 1973 und den entsprechenden Regeln der Ausführungsordnung geregelt. Zur Ausübung des Ermessens nach R. 71a EPÜ 1973 geänderte Ansprüche zuzulassen oder zurückzuweisen, führte die Kammer aus, bei der Ausübung dieses Ermessens müsse sie allen im jeweiligen Fall rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen und abwägen zwischen dem Interesse des Anmelders an der Erlangung eines angemessenen Patentschutzes für seine beanspruchte Erfindung und dem Interesse des EPA, das Prüfungsverfahren durch Erlass eines Beschlusses zu einem zügigen Abschluss zu bringen (in Anlehnung an G 7/93, ABl. 1994, 775). S. auch T 545/08.
In T 755/96 befand die Kammer auch, dass zwischen Erteilungsstadium und Einspruchsstadium unterschieden werden muss. Wie aus der Begründung für die Einführung der R. 71a EPÜ 1973 ersichtlich, ging es insbesondere darum, dass die übrigen Beteiligten im Einspruchsverfahren nicht mit Überraschungen konfrontiert werden sollten. Im Einspruchsverfahren sind die Beteiligten möglicherweise nur durch zugelassene Vertreter vertreten, die von ihren Mandanten und deren Fachleuten Instruktionen einholen müssten, wie sie mit den neuen Anträgen oder Beweismitteln verfahren sollten. Daher könnte man Material, das erst nach dem gemäß R. 71a EPÜ 1973 festgelegten Stichtag eingereicht wird, mit gutem Grund zurückweisen oder die mündliche Verhandlung vertagen. Diese Überlegungen gelten aber nicht für eine mit der Sachprüfung betraute Prüfungsabteilung, weil diese selbst über technisches Fachwissen verfügt und keine Instruktionen von Dritten einholen muss. Wenn sie sich auf eine mündliche Verhandlung vorbereitet hat, müsste sie normalerweise auch bei Anträgen, die erst in der mündlichen Verhandlung gestellt werden, in der Lage sein zu beurteilen, ob ein neuer Antrag eindeutig nicht gewährbar ist. Eine Prüfungsabteilung, die von ihrem Ermessen nach R. 71a EPÜ 1973 Gebrauch macht und die geänderten Ansprüche nicht zulässt, muss dies begründen.
In T 712/97 hatte der Beschwerdegegner (Einsprechende) am letzten Tag der für die Einreichung von Stellungnahmen nach R. 71a (1) EPÜ 1973 gültigen Frist einen Bericht mit Vergleichsversuchen eingereicht. Die Einspruchsabteilung ließ den Versuchsbericht zum Verfahren zu, nicht jedoch den in Antwort auf den Versuchsbericht des Beschwerdegegners eingereichten Versuchsbericht des Beschwerdeführers. Die Kammer befand, dass die Zulassung des Versuchsberichts des Beschwerdegegners dazu geführt habe, dass sich der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt gemäß R. 71a (1) EPÜ 1973 geändert hatte, und damit hätte der eingereichte Bericht zum Verfahren zugelassen werden müssen. Dass dieser Bericht keinen Einfluss auf den Verlauf des Verfahrens haben würde, war unter den gegebenen Umständen keine gültige Überlegung. Eine Partei erwarte zu Recht, dass ihre Stellungnahme zum Verfahren zugelassen werde, auch wenn sich herausstelle, dass diese für das Verfahrensergebnis dieser Instanz unerheblich sei.
In T 484/99 behauptete der Beschwerdeführer (Patentinhaber), es sei ein Verfahrensmangel, dass es die Einspruchsabteilung nach R. 71a EPÜ 1973 abgelehnt habe, Änderungen in den am Tag der mündlichen Verhandlung vorgelegten Anträgen zu berücksichtigen oder auch nur zu prüfen. Die Kammer war anderer Ansicht; aus dem Wortlaut von R. 71a (2) EPÜ 1973 gehe nämlich eindeutig hervor, dass vom Patentinhaber nach dem letztmöglichen Zeitpunkt vorgebrachte Argumente nicht berücksichtigt werden müssten. In T 64/02 wies die Kammer darauf hin, dass R. 71a (2) EPÜ 1973 für die verspätete Einreichung geänderter Patentansprüche im Rahmen eines Hilfsantrags gelte, selbst wenn diese Ansprüche im Ladungsbescheid nicht angefordert worden seien (s. auch T 1067/08).
In T 951/97 (ABl. 1998, 440) befand die Kammer, dass sich der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt im Sinne der R. 71a (1) und (2) EPÜ 1973 unter anderem dann ändert, wenn die Prüfungsabteilung selbst erstmals in der mit einem Bescheid nach R. 71a EPÜ 1973 anberaumten mündlichen Verhandlung ein neues, relevantes Schriftstück einführt. In T 2434/09 stellte die Kammer fest, dass der Anmelder keinen Anspruch auf eine schriftliche Fortsetzung des Verfahrens hat, wenn das erstinstanzliche Organ in der mündlichen Verhandlung ein neues Schriftstück einführt und dadurch den Verhandlungsgegenstand ändert. Das rechtliche Gehör des Anmelders nach Art. 113 (1) EPÜ 1973 ist gewahrt, wenn dieser ausreichend Zeit erhält, das Schriftstück zu studieren und sich dazu zu äußern.
In T 765/06 hatte die Prüfungsabteilung in ihrer Ladung darauf hingewiesen, dass vorbereitende Schriftsätze und neue Ansprüche nicht später als einen Monat vor dem Verhandlungstermin eingereicht werden sollten. Sechs Tage vor der mündlichen Verhandlung reichte der Anmelder neue Anträge ein, die der Berichterstatter in einem Telefonat mit dem Anmelder für prima facie schutzunfähig betrachtete und die in der mündlichen Verhandlung gemäß R. 71a EPÜ 1973 nicht zugelassen wurden. Die Kammer entschied, dass das Zugeständnis, noch neue Ansprüche einreichen zu dürfen, nicht die Zusage einschließt, dass über diese Ansprüche unter wesentlicher Einschränkung der zur Prüfung zur Verfügung stehenden Zeit auch mündlich verhandelt wird.
In T 798/05 stellte die Kammer fest, dass R. 71a EPÜ 1973 keine absolute Sperre für verspätetes Vorbringen im Einspruchsverfahren darstelle, die eine prima facie Prüfung ausschließt. R. 71a EPÜ 1973 könne den in Art. 114 (1) EPÜ 1973 verankerten Grundsatz der Amtsermittlung nicht außer Kraft setzen oder einschränken, weil eine Regel der Ausführungsordnung im Rang niedriger sei als ein Artikel des Übereinkommens. Der Wortlaut der R. 71a EPÜ 1973 sieht ausdrücklich durch die Anwendung der Ausdrücke "brauchen, need not, peuvent" einen Ermessensspielraum für die Zulassung von verspätetem Vorbringen vor.
In T 937/09 entschied die Kammer, dass die Prüfungsabteilung Änderungen der Anmeldung gemäß R. 137(3) EPÜ auch dann ablehnen kann, wenn diese Änderungen vor dem durch die Prüfungsabteilung gemäß R. 116 (1) EPÜ festgelegten Zeitpunkt eingereicht wurden. S. auch T 2355/09.