W. Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt
Dass die Richtlinien für die Kammern nicht bindend sind, impliziert also nicht, dass diese sie bei ihren Entscheidungen nicht berücksichtigen oder sich nicht davon inspirieren lassen. Die in den nachstehenden, hier zur Veranschaulichung der Rechtsprechung angeführten Zusammenfassungen zitierte Fassung der Richtlinien ist die von der jeweiligen Kammer in ihrer Entscheidung angewandte und nicht unbedingt die neuste, aktuell geltende Fassung (Stand März 2022).
In T 651/91 zitierte die Kammer zustimmend die Richtlinien und bestätigte, dass eine generische Offenbarung ein spezielles Beispiel, das unter diese Offenbarung fällt, in der Regel nicht neuheitsschädlich vorwegnimmt.
In T 523/89 sah die Kammer keine Veranlassung, von dem in den Richtlinien verankerten allgemeinen Auslegungsgrundsatz abzuweichen.
In T 631/97 (ABl. 2001, 13) vertrat die Kammer die Ansicht, dass die angeführte Auslegung der R. 46 (1) EPÜ 1973 (R. 64 EPÜ) mit der Stellungnahme G 2/92 der Großen Beschwerdekammer in Einklang stehe. Sie kam auch zu dem Schluss, dass die Prüfungsrichtlinien den Maßgaben nach G 2/92 und R. 46 EPÜ 1973 voll entsprächen.
In T 587/98 (ABl. 2000, 497) gelangte die Kammer zu der Feststellung, dass die Ansprüche in dem vorliegenden Fall keine "kollidierenden" Ansprüche im Sinne der Richtlinien seien.
Die Große Beschwerdekammer erklärte in G 3/14 (ABl. 2015, A102), dass weder das EPÜ selbst noch die Ausführungsordnung in Bezug auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ in der Prüfungsphase zwischen unabhängigen und abhängigen Ansprüchen unterscheiden. Auch die Richtlinien für die Prüfung, die zwar nicht ausdrücklich Teil des rechtlichen Rahmens des EPÜ sind, unterscheiden im Falle von Einwänden wegen mangelnder Klarheit nicht zwischen unabhängigen und abhängigen Ansprüchen (s. z. B. F‑IV, 4.1 – Stand November 2014; unverändert in F‑IV, 4.1 – Stand März 2022).
Im Ex-parte-Verfahren T 655/13 (Prüfungsabteilung – Begründung auf der Grundlage eines relevanten Dokuments aus dem Stand der Technik in einer Nichtamtssprache) stützte sich die Kammer in ihrer Begründung teilweise auf die Richtlinien.
In T 300/89 (ABl. 1991, 480) befand die Kammer im Zusammenhang mit der Rüge des Beschwerdeführers, der Prüfer sei seiner Bitte um Rückruf nicht nachgekommen, dass die einschlägige Praxis in Bezug auf formlose Rücksprachen in den Richtlinien klar dargelegt sei.
Der Antrag des Anmelders auf eine Entscheidung "nach Aktenlage" sei nicht als Verzicht auf das Recht auf eine vollständig begründete erstinstanzliche Entscheidung auszulegen, auch nicht vor dem Hintergrund des in den Richtlinien beschriebenen Verfahrens (s. T 1309/05, T 583/04).
In T 1709/06 stellte die Kammer fest, dass in den Richtlinien E‑X, 4.4 zwar ein Verfahren für Standardentscheidungen "nach Aktenlage" vorgesehen ist, dass aber in einigen Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA (vgl. T 1309/05, T 1356/05) darauf hingewiesen worden ist, dass eine solche Standardentscheidung das Erfordernis der Entscheidungsbegründung gemäß R. 68 (2) EPÜ 1973 (R. 111 (2) EPÜ) nicht erfüllt.
In T 1123/04 wies die Kammer darauf hin, dass nach R. 68 (2) EPÜ 1973 (R. 111 (2) EPÜ) Entscheidungen des Europäischen Patentamts, die mit der Beschwerde angefochten werden können, zu begründen sind. Die für die "Begründung" maßgeblichen Kriterien werden beispielsweise in den Richtlinien erörtert.
In T 2068/14 musste die Kammer darüber befinden, ob die Entscheidung der Prüfungsabteilung ausreichend begründet war. Die Kammer bekräftigte folgende Aussage in den Richtlinien, weil diese die Rechtsprechung der Beschwerdekammern widerspiegelt: "Es ist insbesondere von Bedeutung, dass auf wichtige Tatsachen und Argumente sorgfältig eingegangen wird, die gegen die getroffene Entscheidung sprechen können. Andernfalls könnte der Eindruck entstehen, dass solche Punkte übersehen worden sind" (in der damals geltenden Fassung vom September 2013; unverändert in der Fassung der Richtlinien E‑X, 2.6 – Stand März 2022). In der Entscheidung T 1998/10 (Verwendung des Standardformulars) ergänzte die Kammer ihre Auslegung der R. 111 (2) EPÜ zur Begründung von Entscheidungen ebenfalls mit einem Verweis auf die Richtlinien E‑IX, 5, denen zufolge die in einer Entscheidung genannten Gründe "vollständig und aus sich heraus, d. h. im Allgemeinen ohne Verweisungen verständlich" sein sollten.
In T 833/99 betreffend angebliche Vorbenutzungen erklärte die Kammer, entgegen der Meinung des Beschwerdeführers (Einsprechenden) seien hier nicht die Bedingungen anzuwenden, die im ersten Absatz der Richtlinien D‑V, 3.1.3.1 in der damals geltenden Fassung (nunmehr Richtlinien G‑IV, 7.2.1 – Stand März 2022) genannt werden, sondern die im letzten Absatz, letzter Satz angeführten (Wortlaut der Fassung vom März 2022: "... jedoch alle Merkmale, die verborgen waren und nur durch Zerlegung oder Zerstörung des Erzeugnisses ermittelt werden konnten, nicht als der Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu betrachten".).
In T 2362/13 wurde unter Verweis auf die Richtlinien G‑II, 3.5.3 und auf T 983/11 befunden, dass Logistik in der Regel unter die nach Art. 52 (2) EPÜ ausgeschlossenen Gegenstände fällt.
In J 12/18 entschied die Kammer, dass die Begründung in der angefochtenen Entscheidung und die darin zitierten Richtlinien (Richtlinien A‑IV, 1.3.4) der Auslegung des Art. 76 (2) EPÜ (nach Maßgabe der anerkannten Auslegungsregeln) entsprachen.
In T 261/15 erklärte die Kammer in Bezug auf das Argument, dass ein ausgewählter Teilbereich unter anderem genügend Abstand von den Eckwerten des bekannten Bereichs haben müsse, ihr seien keine Entscheidungen bekannt, in denen diese Bedingung so allgemein formuliert sei. Es sei zwar richtig, dass in den Richtlinien für die Prüfung, G‑VI, 8 unter Punkt ii) b) dieses Kriterium als Bedingung für die Zuerkennung der Neuheit bei einer Auswahl aus einem Zahlenbereich genannt werde. Allerdings sei diese Bedingung weder in T 198/84 noch in T 279/89, die beide im genannten Abschnitt der Richtlinien angeführt werden, festgeschrieben.
Bei der Auslegung der Regel 116 (1) EPÜ und der Beurteilung, ob sie von der ersten Instanz korrekt angewandt wurde, stützte sich die Kammer in T 1750/14 auf eine wörtliche Auslegung der Bestimmungen in R. 116 (1) EPÜ in Verbindung mit R. 132 (2) EPÜ entsprechend den Richtlinien für die Prüfung (Richtlinien D‑VI, 3.2 – Stand September 2013, letzter Satz).
In T 2431/19 hatte die Prüfungsabteilung unter Verweis auf R. 137 (5) EPÜ nach ihrem Ermessen entschieden. Der Kammer war klar, dass in den Richtlinien Begriffe wie "Zulassung" und ähnliche Formulierungen in Verbindung mit R. 137 (5) EPÜ verwendet werden (s. Richtlinien F‑IV, 3.3 – Stand November 2018, vierter Absatz: "solche Änderungen können nicht zugelassen werden"; H‑II, 6.2, dritter Absatz: "so sind die Änderungen nicht zulässig"). Die Kammer befand jedoch, dass R. 137 (5) EPÜ im Gegensatz zu R. 137 (3) EPÜ der Prüfungsabteilung kein Ermessen einräumt.
In T 944/15 war die Kammer nicht mit der vom Beschwerdeführer angeführten Feststellung im letzten Absatz der Richtlinien G‑II, 4.2.1 – Stand November 2019 einverstanden, die da lautete: "Ansprüche für medizinische Vorrichtungen, Computerprogramme und Speichermedien mit einem Gegenstand, der einem Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers oder einem Diagnostizierverfahren entspricht, das am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen wird, fallen nicht unter das Patentierungsverbot nach Art. 53 c) EPÜ, weil das Verbot nur Verfahrensansprüche betrifft."
Die in der Mitteilung des EPA vom 8. November 2013 betreffend handschriftliche Änderungen genannten Gründe für die Änderung der auch in erster Instanz jahrelang gepflegten und in den "Richtlinien für die Prüfung im europäischen Patentamt" anerkannten Übung gebieten keine Änderung der etablierten Handhabung im Beschwerdeverfahren und der hierzu ergangenen Rechtsprechung (T 37/12 mit Verweis auf T 1635/10, Nr. 5 der Gründe).
In T 736/14 befand die Kammer zwar, dass das EPÜ nicht explizit regelt, wie bei einem Anmelder vorzugehen ist, dessen Anmeldung nicht einheitlich ist und der auf die Aufforderung der Prüfungsabteilung, genau anzugeben, welche der recherchierten Erfindungen er weiterverfolgen möchte, unklar oder missverständlich reagiert. Die Richtlinien H‑II, 7.1 – Stand 2013 hätten jedoch nach Auffassung der Kammer bei der Nichtzulassung des Hilfsantrags gar nicht angewandt werden dürfen, weil der Anmelder in diesem Stadium des Prüfungsverfahrens nicht klar angegeben hat, welche Erfindung weiterverfolgt werden sollte.
Die Kammer in T 2015/20 befand, dass weder T 609/02 noch die darauf beruhende Rechtsprechung eine Abweichung von der ständigen Rechtsprechung oder eine von den Richtlinien F‑III, 1 abweichende Auslegung erkennen lässt, insbesondere was die ernsthaften Zweifel betrifft, die die Voraussetzung für einen überzeugenden Einwand mangelnder Offenbarung sind.
In der Frage des Beweismaßstabs bei Internet-Veröffentlichungen stützten sich die Kammern bei ihren Entscheidungen auf die Richtlinien (s. Richtlinien G‑IV, 7.5.2 – Stand März 2022) und hielten somit am Grundsatz des Abwägens der Wahrscheinlichkeit fest (T 2227/11, bestätigt in T 1711/11, T 353/14, T 545/08). In diesen Entscheidungen wurde der vorherigen Entscheidung T 1134/06 widersprochen, wonach auf Internet-Offenbarungen der strengere Beweismaßstab des zweifelsfreien Nachweises anzulegen sei.
In T 314/18 entschied die Kammer, dass der schlüssige Nachweis einer angeblichen Vorbenutzung innerhalb der Einspruchsfrist nirgendwo im EPÜ verlangt ist. Die Einspruchsabteilung, die unter Verweis auf die EPA-Richtlinien G‑IV, 7.2 und E‑IV, 1.2 argumentiert hatte, dass die unzureichende Begründung der Vorbenutzung in der Einspruchsschrift nicht durch Vernehmung des Zeugen behoben werden könne, hatte die Vorlage von Tatsachen und die für deren Ermittlung erforderlichen Nachweise verwechselt.
In T 967/17 entschied die Kammer wie folgt: Anders als vom Beschwerdeführer impliziert, besagen die Richtlinien F‑IV, 4.14 nicht, dass ein Anspruch, der auf einen ersten Gegenstand gerichtet ist und sich auf einen zweiten Gegenstand bezieht, der nicht Teil des beanspruchten ersten Gegenstands ist, auf eine Kombination dieser beiden Gegenstände ausgerichtet werden kann. Vielmehr muss jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob eine solche Kombination mit Art. 123 (2) EPÜ konform ist.
In T 879/18 schloss die Kammer unter Verweis auf die Richtlinien E‑VI.2.2 a) – Stand 2017, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen unangemessen ausgeübt hat, als sie den geänderten Hauptantrag (jetzt Hilfsantrag) in Erwiderung auf den neuen Einwand des Einsprechenden nicht zugelassen hat. Die Kammer entschied, den ersten Hilfsantrag zum Beschwerdeverfahren zuzulassen.
Die Kammer in T 1121/17 entschied (Orientierungssatz), dass die in den Richtlinien H‑IV.3.5 – Stand November 2016 genannten Kriterien für die materielle Zulässigkeit von Änderungen nach Art. 123 (3) EPÜ nicht zur Beurteilung der Frage geeignet sind, ob die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt sind.