9.9. Chemische Erfindungen
In T 777/08 (ABl. 2011, 633) bezogen sich die fraglichen Ansprüche auf ein besonderes Polymorph (Form IV) von kristallinem Atorvastatinhydrat. Die Kammer führte aus, dass der Fachmann auf dem Gebiet der Arzneimittelentwicklung gewusst hätte, dass Polymorphie ein verbreitetes Phänomen bei Molekülen ist, die für die pharmazeutische Industrie interessant sind, und dass es sich empfiehlt, schon in einer frühen Phase der Arzneimittelentwicklung nach Polymorphen zu suchen. Mit den entsprechenden Routineverfahren hierfür wäre er vertraut gewesen. Die bloße Bereitstellung einer kristallinen Form einer bekannten pharmazeutisch wirksamen Verbindung konnte daher nicht als erfinderisch angesehen werden, sofern kein technisches Vorurteil zu überwinden war und keine unerwartete Eigenschaft vorlag (s. auch T 41/17, T 1831/18). Ausgehend von der amorphen Form einer pharmazeutisch wirksamen Verbindung als nächstliegendem Stand der Technik würde der Fachmann eindeutig erwarten, dass sich die Aufgabe der Bereitstellung eines Erzeugnisses mit verbesserten Filtrations- und Trocknungseigenschaften durch eine kristalline Form dieser Verbindung lösen ließe. Eine willkürliche Auswahl eines spezifischen Polymorphs aus einer Gruppe gleichermaßen geeigneter Kandidaten kann nicht als erfinderisch angesehen werden.
In T 478/17 sah die Kammer insofern einen Unterschied zu den Entscheidungen T 777/08 und T 41/07, als der vorliegende Fall nicht die Auswahl einer kristallinen Form betraf, sondern die eines konkreten Salzes, nämlich die von Eliglustat-Hemitartrat, das zu mindestens 70 Gew.-% kristallin ist. Die Auswahl dieses konkreten Salzes war nicht willkürlich. Vielmehr hatte es unerwartete Eigenschaften, nämlich eine verbesserte (geringere) Hygroskopizität und eine verbesserte chemische Stabilität. Eine "Einbahnstraßen-Situation" gegenüber D1 – wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht – konnte die Kammer nicht erkennen. Ausgehend von D1 hätte der Fachmann verschiedene Auswahlmöglichkeiten in Bezug auf die Stöchiometrie und den Grad der Kristallinität gehabt. Daher kam die Kammer zu dem Schluss, dass es für den Fachmann angesichts des angeführten Stands der Technik nicht naheliegend gewesen wäre, das zu mindestens 70 Gew.-% kristalline Salz Eliglustat-Hemitartrat zu isolieren und zu der in Anspruch 9 des Hauptantrags definierten Verbindung zu gelangen.
Auch die Kammer in T 1684/16 machte einen Unterschied zu T 777/08, vor deren Hintergrund der Beschwerdeführer vorgebracht hatte, dass die beanspruchte Lösung naheliegend sei, weil das Screening von Polymorphen, wie der Stand der Technik zeige, eine Routinetätigkeit sei. Anders als T 777/08 betraf die vorliegende Sache nicht die Auswahl irgendeiner kristallinen Form, sondern die einer ganz speziellen kristallinen Form (nämlich Form I von Bosutinib-Monohydrat). Die Auswahl dieser speziellen kristallinen Form war nicht willkürlich, vielmehr hatte diese Form unerwartete Eigenschaften, nämlich eine bessere Stabilität im Vergleich zu den anderen kristallinen Formen aus D1, D2 und D3. Dass der Stand der Technik den Fachmann lehrte, Polymorphe zu untersuchen, um die kristalline Form mit den vorteilhaftesten Eigenschaften zu isolieren, reicht allein nicht unbedingt aus, um eine spezielle polymorphe Form mit einer bestimmten gewünschten Eigenschaft als naheliegend anzusehen (s. auch T 1326/18).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”