5.5. Parameter
Werden zur Definition der Lösung einer technischen Aufgabe unübliche Parameter verwendet, so trifft den Patentinhaber eine besondere Pflicht, sämtliche Informationen zu offenbaren, die erforderlich sind, um den neuen Parameter zuverlässig zu bestimmen, gemäß T 172/99, T 815/07 und T 593/09 (Zusammenfassung der Grundsätze gemäß T 1845/14).
In T 172/99 traf die Kammer folgende Entscheidung: Wird die Lösung eines technischen Problems, mit der sich eine relevante Wirkung erzielen lässt, für einen beanspruchten Gegenstand mithilfe eines neu formulierten und damit unüblichen Parameters definiert, so trifft den Patentinhaber eine besondere Pflicht, sämtliche Informationen zu offenbaren, die erforderlich sind, um den neuen Parameter zuverlässig nicht nur i) formal korrekt und vollständig zu definieren, sodass der Fachmann seine Werte ohne unzumutbaren Aufwand ermitteln kann, sondern auch ii) so, dass seine Gültigkeit für die Lösung des technischen Problems der Anmeldung bzw. des Patents insgesamt zuverlässig gewährleistet bleibt; die routinemäßig ermittelten Werte dürfen also nicht so ausfallen, dass unter den beanspruchten Gegenstand auch Varianten fallen, die die relevante Wirkung nicht herbeiführen und das entsprechende technische Problem somit nicht lösen können (in zahlreichen Entscheidungen bestätigt; s. z. B. T 914/01, T 179/05, T 75/09 und T 1287/15 (strittig ob unüblicher Parameter (bejaht) – in T 172/99 festgestellte besondere Pflicht des Patentinhabers nicht erfüllt)).
In T 54/17 wurde auf die gängige Rechtsprechung verwiesen, dass bzgl. Art. 100 b) EPÜ zwei Bedingungen erfüllt sein müssen. Zum einem muss der Fachmann der Patentschrift zumindest einen Weg zur Ausführung der beanspruchten Erfindung entnehmen können, zum anderen muss er die Erfindung im gesamten beanspruchten Bereich ausführen können. Die Kammer stellte hierzu fest, dass die (zweite) Bedingung eine besondere Bedeutung habe, vor allem wenn der Anspruch unübliche Parameter (Parameter "Betriebsereignis" und "Reaktionsmuster" – gewisser Sinn in der deutschen Sprache – hier nicht ohne Weiteres in einem technischen Sinn zu verstehen) enthalte. Die Kammer verwies auf die in T 172/99 aufgelisteten Bedingungen. Die Kammer war der Meinung, dass ein Fachmann die Erfindung nicht ausführen konnte.
In T 602/10 kam die Kammer zu dem Schluss, dass sich der Patentinhaber bewusst dafür entschieden habe, zur Messung der Runzligkeit ein anderes Verfahren als das im Stand der Technik gebräuchliche heranzuziehen. Folglich war er verpflichtet, vollständige Angaben bezüglich der Mittel und Prozesse zu dessen Umsetzung zu machen. Allgemein ausgedrückt: Geht es in der Frage der ausreichenden Offenbarung um die Beschreibung eines Verfahrens zur Ermittlung eines Parameters, so sollten die Angaben in der Beschreibung umso präziser sein, je weniger gebräuchlich das Verfahren ist. Im vorliegenden Fall hätte sich der Fachmann bei der Umsetzung des patentgemäßen Verfahrens zur Messung der Runzligkeit primär auf die Lehre des Streitpatents verlassen müssen, da aus dem Stand der Technik keine Verwendung eines entsprechenden Verfahrens bekannt war.
In T 131/03 stellte die Kammer fest, sobald der Einsprechende die starke Vermutung aufgestellt hat, dass unübliche Parameter, wie sie zur Definition des beanspruchten Gegenstands verwendet worden seien, im Stand der Technik implizit offenbart worden seien, könne der Patentinhaber nicht lediglich beantragen, dass zulasten des Einsprechenden entschieden wird. Es sei Sache des Patentinhabers, nachzuweisen, inwiefern die in der Definition seiner Erfindung verwendeten Parameter den beanspruchten Gegenstand vom Stand der Technik unterschieden.
Die Kammer in T 1287/15 entschied, dass der Parameter "inkrementale Adsorptionskapazität" ein neu formulierter und damit unüblicher Parameter war. Dieser Fall ähnelte T 172/99, war aber nicht vergleichbar mit T 231/01, wo die relevanten Parameter durch Bezugnahme auf die Verfahren zu ihrer Messung ausreichend beschrieben wurden. In T 1287/15 ging es vor allem um das Verständnis des Begriffs und nicht so sehr um die Verfügbarkeit eines Messverfahrens, dennoch waren Überlegungen aus dem Orientierungssatz von T 172/99 relevant. Der Patentinhaber (Beschwerdeführer) hatte die besondere Pflicht, sämtliche Informationen zu offenbaren, die erforderlich sind, um den neuen Parameter zuverlässig zu definieren, den er eingeführt hatte, obwohl ein etablierter Parameter verfügbar war. Die T 172/99 genannte besondere Pflicht des Patentinhabers wurde nicht erfüllt.
In T 1414/08 stellte die Kammer fest, dass die ausreichende Offenbarung fraglich sein könnte, wenn bestimmte Werte eines unüblichen Parameters in einem Patent als wesentlich für die Erfindung formuliert werden, ein Verfahren zur Messung dieses Parameters aber weder im Stand der Technik bekannt noch im Patent offenbart ist. Im vorliegenden Fall jedoch war der Parameter (Zugfestigkeit) nicht unüblich. Abhängig vom Messverfahren besteht eine Unsicherheit hinsichtlich der tatsächlichen in den unabhängigen Ansprüchen genannten Endpunkte des Spektrums für die Zugfestigkeit (Art. 84 EPÜ und nicht Art. 83 EPÜ).
In T 1553/16 stellte die Kammer fest, dass es nicht um eine angebliche Mehrdeutigkeit bei der Bestimmung eines Parameters ging, die in manchen Fällen durchaus ein Klarheitsmangel sein könnte, sondern um das Fehlen wesentlicher Informationen, die für die Durchführung eines spezifischen Verfahrens (nämlich des Verfahrens APTF-2) erforderlich wären, dessen Üblichkeit auf dem betreffenden technischen Gebiet nicht nachgewiesen wurde und das zur Bestimmung eines in den operativen Ansprüchen genannten unüblichen Merkmals (F-Zeit) erforderlich war. Mit anderen Worten: der Mangel an Informationen führte nicht dazu, dass der Anspruch übermäßig breit oder unklar abgegrenzt wäre, sondern er rührte daher, dass ein Parameter vorlag, der an sich sehr spezifisch war, dessen Messmethode jedoch geheim gehalten wurde.
S. auch T 1452/16 (unübliche Parameter – angebliche Vorbenutzung – öffentliche Verfügbarkeit eines Produkts): Was die Möglichkeit des Patentinhabers betraf, an Muster zu gelangen und diese zu testen, erklärte die Kammer, dass sich beim Testen von nach dem Prioritätstag hergestellten Mustern die berechtigte Frage stellen konnte, ob die erhaltenen Ergebnisse für die Verhältniswerte in den Mustern des Stands der Technik repräsentativ waren. Aufgrund der Nutzung eines im Stand der Technik nicht verwendeten Parameters lag es jedoch am Patentinhaber zu beweisen, dass der Stand der Technik nicht unter den Anspruch fiel.
Weitere Entscheidungen: T 1764/06 (keine Entscheidung im Zweifel zugunsten des Anmelders – s. Orientierungssatz); T 288/06 (unüblicher Parameter und Messverfahren); T 815/07; T 1920/09 (unüblicher Parameter und Glaubhaftmachung); T 484/05; T 1995/15 (implizites Merkmal – bei Verwendung eines unüblichen Parameters obliegt es dem Anmelder, die Neuheit gegenüber der Entgegenhaltung zu begründen, an deren impliziter Erfüllung des Parameters kein begründeter Zweifel besteht); T 615/19 (Entscheidungen über mangelnde Offenbarung wegen unklarer oder unzureichender Angabe eines Verfahrens zur Ermittlung eines unüblichen Parameters wurden als nicht auf den vorliegenden, für den Fachmann völlig unproblematischen Fall anwendbar gewertet).
S. T 1900/17 (Wäscheweichmacher – Verwendung eines berechneten Verteilungskoeffizienten wie ClogP zur Auswahl von anionischen Tensiden – ausführliche Diskussion über die Frage, ob ClogP ein unüblicher Parameter ist).