3.2.3 Entscheidungen mangels einer vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung (Artikel 113 (2) EPÜ)
Wenn die Anmelder innerhalb der Frist die Gebühren entrichten und die Übersetzung einreichen (und keine Berichtigung oder Änderung der in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ für die Erteilung vorgeschlagenen Fassung beantragen oder einreichen), gilt dies somit als Einverständnis mit der für die Erteilung vorgesehenen Fassung (R. 71 (5) EPÜ) (s. Richtlinien C‑V, 1.1 – Stand März 2022).
Dies gilt auch, wenn der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ ein Hilfsantrag zugrunde lag, es sei denn, der Anmelder beantragt in Reaktion auf die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ die Erteilung auf der Grundlage eines höherrangigen Antrags. Ferner kommt diese Regelung zur Anwendung, wenn die Prüfungsabteilung in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ Änderungen oder Berichtigungen der für die Erteilung vorgesehenen Fassung vorgeschlagen hat. Lehnt der Anmelder diese vorgeschlagenen Änderungen oder Berichtigungen in seiner Erwiderung nicht ab, so gilt die Vornahme der oben genannten Handlungen folglich als Einverständnis mit der Fassung der Prüfungsabteilung einschließlich der vorgeschlagenen Änderungen oder Berichtigungen (Richtlinien C‑V, 2 – Stand März 2022).
In T 1003/19 befand die Kammer, dass die angefochtene Entscheidung gegen Art. 113 (2) EPÜ verstieß und der Prüfungsabteilung ein wesentlicher Verfahrensfehler unterlaufen war; die erteilte Fassung des Patents entsprach weder einer vom Beschwerdeführer eingereichten noch einer von ihm gebilligten Fassung und auch nicht einer Fassung, die als von ihm gebilligt gelten konnte. Der Beschwerdeführer hatte nicht beantragt, ein Patent mit anderen als den sieben ursprünglich eingereichten und veröffentlichten Zeichnungsblättern zu erteilen. In der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ wurde allerdings nur auf "Zeichnungen, Blätter 1/1 in der veröffentlichten Fassung" Bezug genommen. Die Kammer entschied, dass der Beschwerdeführer die in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannten geänderten Anmeldungsunterlagen nicht ausdrücklich gebilligt hatte und auch sein Einverständnis im Sinne der R. 71 (5) EPÜ mit der ihm in dieser Mitteilung übermittelten Liste von Unterlagen nicht als erteilt gelten konnte. Die in R. 71 (5) EPÜ vorgesehene Folge – "Wenn der Anmelder […], gilt dies als Einverständnis mit der ihm nach Absatz 3 mitgeteilten Fassung" – findet nur dann Anwendung, wenn dem Anmelder gemäß R. 71 (3) EPÜ "die Fassung, in der sie [die Prüfungsabteilung] das europäische Patent zu erteilen beabsichtigt" mitgeteilt worden ist. Die Kammer erklärte, dass unter normalen Umständen davon auszugehen ist, dass die in einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannte Fassung den wahren Willen der Prüfungsabteilung widerspiegelt und daher mit der Fassung übereinstimmt, auf deren Grundlage die Erteilung des Patents vorgesehen ist. Im vorliegenden Fall gab es ihrer Auffassung nach jedoch genügend Anhaltspunkte dafür, dass dies bei der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ nicht der Fall war. Die Kammer erklärte weiter, dass das EPA von sich aus kleinere Änderungen vorschlagen könne, von einem Anmelder aber nicht zu erwarten sei, dass dieser die Entfernung aller Zeichnungsblätter mit den Ausführungsarten der Erfindung akzeptiert.
Die Kammer erklärte, dass sie nicht von der Entscheidung G 1/10 abgewichen sei, die sich auf das Erfordernis der R. 71 (3) EPÜ gestützt hatte, wonach dem Anmelder die Fassung mitgeteilt werden muss, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen beabsichtigt (s. Nr. 10 der Entscheidungsgründe), und in der es um die möglichen Reaktionen des Anmelders ging, wie etwa das implizite Einverständnis mit dieser Fassung. Die Entscheidung der mit der vorliegenden Sache befassten Kammer stützte sich dagegen auf die Tatsache, dass die von der Prüfungsabteilung für die Erteilung beabsichtigte Fassung dem Anmelder – nachweislich – nicht mitgeteilt worden war und R. 71 (5) EPÜ daher (zu jenem Zeitpunkt) nicht anwendbar war. Somit gab es keine Fassung, mit der der Anmelder sein Einverständnis erklärt hatte. Der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr wurde allerdings zurückgewiesen; der Fehler war zwar der Prüfungsabteilung unterlaufen, der Beschwerdeführer hatte aber mehrmals die Möglichkeit, den Fehler zu bemerken, und hätte ihn spätestens beim Vergleich des Textes der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ mit dem Druckexemplar bemerken können und müssen.
In T 2081/16 stellte die Kammer Folgendes fest: Wenn die zur Erteilung vorgesehene Fassung dem Anmelder nicht nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilt wird, ist die Tatsache, dass der Anmelder anschließend eine Übersetzung einreicht und die Erteilungs- und Veröffentlichungsgebühr entrichtet, nicht entscheidend. R. 71 (5) EPÜ verweist diesbezüglich auf R. 71 (3) EPÜ und setzt somit voraus, dass dem Anmelder nicht irgendeine Fassung mitgeteilt wurde, sondern die zur Erteilung vorgesehene. Nur in diesem Fall greift R. 71 (5) EPÜ, und nur dann implizieren die Einreichung einer Übersetzung und die Zahlung der erforderlichen Gebühren das Einverständnis mit der mitgeteilten Fassung. Im vorliegenden Fall spiegelten weder die im Formblatt 2004C aufgeführten Unterlagen noch das Druckexemplar die Fassung wider, in der die Prüfungsabteilung das europäische Patent zu erteilen beabsichtigte. Im Zuge ihrer Entscheidung stellte die Kammer fest, dass sie nicht von G 1/10 abgewichen war und somit Art. 21 VOBK 2007 nicht zur Anwendung kommt. In G 1/10 hatte die Große Beschwerdekammer befunden, dass R. 140 EPÜ nicht zur Verfügung steht, um die Fassung eines Patents zu berichtigen. Um diese Frage ging es in der vorliegenden Sache nicht. Hier gab es keine vom Anmelder gebilligte Fassung.
In T 408/21 erklärte die Kammer, dass in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Klärung der einer Handlung oder einem Antrag zugrunde liegenden Absicht häufig versucht wird, den "wahren Willen" des Betreffenden zu ermitteln. In der Regel entsprechen die in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ aufgeführten Unterlagen dem Antrag des Anmelders und der Absicht der Prüfungsabteilung. Doch in einem Fall, in dem es offenbar ernsthafte Zweifel daran gab, ob die in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ übermittelte Fassung tatsächlich diejenige war, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen beabsichtigte, hielt es die Kammer für ein geeignetes Mittel, eben jenen "wahren Willen" der Prüfungsabteilung zu ermitteln. In Anlehnung an T 1003/19 entschied sie daher, dass die Prüfungsabteilung in ihrer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ nicht die Fassung angegeben hatte, in der sie das Patent zu erteilen beabsichtigte. Mit Verweis auf T 2081/16 und T 1003/19 erklärte die Kammer, dass folglich R. 71 (5) EPÜ im vorliegenden Fall nicht anwendbar war, denn nach R. 71 (3) EPÜ musste dem Anmelder, bevor sein Einverständnis als erteilt galt, die Fassung mitgeteilt werden, in der die Prüfungsabteilung das Patent zu erteilen gedachte.
In T 2277/19 stellte die Kammer fest, dass die in der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannte Fassung als die für die Erteilung vorgesehene Fassung anzusehen sei. Da diese Fassung, auf deren Grundlage das Patent erteilt wurde, vom Anmelder (Beschwerdeführer) gebilligt worden sei, seien die Erfordernisse des Art. 113 (2) EPÜ erfüllt. Der Beschwerdeführer hatte (vorbehaltlich der Berichtigung einiger geringfügiger Fehler in der Beschreibung) sein Einverständnis mit der für die Erteilung vorgesehenen Fassung erklärt. Die Kammer vertrat daher die Auffassung, dass die Prüfungsabteilung zu Recht davon ausgegangen sei, dass der Anmelder das Druckexemplar überprüft habe, insbesondere weil er einige Änderungen an der für die Erteilung vorgesehenen Fassung beantragt habe. Die Prüfungsabteilung habe keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass das Einverständnis unter dem Vorbehalt gestanden habe, dass tatsächlich nur die Zeichnungsblätter 1 bis 7 zur Veröffentlichung bestimmt seien. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer ausdrücklich auf sein Recht auf eine weitere Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ verzichtet. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass der Sachverhalt im vorliegenden Fall dem in der Entscheidung T 1003/19 sehr ähnlich sei, und verwies auch auf T 2081/16, doch die Kammer schloss sich keiner dieser früheren Entscheidungen an. Ihrer Auffassung nach gibt es im EPÜ keine Rechtsgrundlage für eine Unterscheidung zwischen der in einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannten Fassung und der Fassung, die der tatsächlichen Absicht der Prüfungsabteilung entspricht. Zudem wird in R. 71 (6) EPÜ die Möglichkeit berücksichtigt, dass die nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilte Fassung nicht den Anträgen des Beschwerdeführers entspricht. Nach Auffassung der Kammer erlegt R. 71 (3) EPÜ dem Anmelder somit die Pflicht auf, diese Fassung zu überprüfen. Dass ein Anmelder sein Recht nicht ausübt, Änderungen nach R. 71 (6) EPÜ zu beantragen, kann deshalb nur als Einverständnis mit der ihm mitgeteilten, d. h. der für die Erteilung vorgesehenen Fassung ausgelegt werden. Ob der Anmelder einen etwaigen Fehler bemerkt, ändert nichts daran, dass dieses Einverständnis bindend ist.
In T 265/20 befand die Kammer, dass damit die in R. 71 (5) EPÜ genannten Voraussetzungen für das Eintreten der Rechtsfolge erfüllt waren, nämlich dass dies als Einverständnis des Anmelders mit der ihm nach R. 71 (3) EPÜ mitgeteilten Fassung galt. Der eindeutige Wortlaut der R. 71 (5) EPÜ lässt keine andere Auslegung als die vorgesehene Rechtsfolge zu. Erstens gibt es im EPÜ keine Rechtsgrundlage für eine Unterscheidung zwischen der in einer Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ genannten Fassung und der Fassung, die der tatsächlichen Absicht der Prüfungsabteilung entspricht (s. auch T 2277/19, Nr. 1.3 der Gründe). Zweitens führte nicht der Inhalt des Textes dazu, dass das Einverständnis nach R. 71 (5) EPÜ als erteilt galt, sondern die Entrichtung der Gebühr und Einreichung der Übersetzungen nach R. 71 (5) EPÜ durch den Anmelder. Daraus folgt, dass es sinnlos wäre, nach dem "wahren Willen" der Mitglieder der Prüfungsabteilung bei der Abfassung der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ zu forschen. Die endgültige Verantwortung für den Text lag beim Anmelder selbst, nicht bei der Prüfungsabteilung. Weiter sah die Kammer in den Entscheidungen T 1003/19 und T 2081/16 keine divergierende Rechtsprechung; für sie ließ der Wortlaut der R. 71 EPÜ zweifelsfrei nicht die Schlussfolgerung zu, dass der "wahre Wille" der Prüfungsabteilung berücksichtigt werden müsse.