3.2.3 Entscheidungen mangels einer vom Anmelder vorgelegten oder gebilligten Fassung (Artikel 113 (2) EPÜ)
Ist es unklar, welchen höherrangigen Antrag der Anmelder aufrechterhalten will, so muss die Prüfungsabteilung den Anmelder im wiederaufgenommenen Prüfungsverfahren auffordern, dies klarzustellen (Richtlinien C‑V, 4.9 – Stand März 2022).
In T 1255/04 (ABl. 2005, 424) stellte die Kammer fest, dass in einem Fall, in dem es neben einem Antrag, der als zulässig betrachtet wird und zu dem eine Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ 1973 (jetzt R. 71 (3) EPÜ) zuzustellen ist, noch höherrangige, zurückgewiesene Anträge gibt, die Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ 1973 unzureichend ist, wenn ihr nicht die Begründung dafür beiliegt, warum die höherrangigen Anträge zurückgewiesen werden. Außerdem sollte in der Mitteilung ausdrücklich auf die Möglichkeit der Aufrechterhaltung der zurückgewiesenen Anträge hingewiesen werden, damit sowohl der Anmelder als auch die Prüfungsabteilung daran erinnert werden, dass der Anmelder eine beschwerdefähige schriftliche Entscheidung zu den höherrangigen Anträgen erwirken kann (im Anschluss an T 1181/04, ABl. 2005, 312). Hält der Anmelder einen noch anhängigen, höherrangigen Antrag aufrecht, der in der mündlichen Verhandlung vor der Prüfungsabteilung erörtert wurde, so kann dieser Antrag nicht nach R. 86 (3) EPÜ 1973 zurückgewiesen werden. R. 86 (3) EPÜ 1973 zielt weder darauf ab noch kann sie dazu verwendet werden, einem Anmelder die Erwirkung einer Entscheidung vorzuenthalten, in der die Zurückweisung eines bereits während des Verfahrens inhaltlich erörterten Antrags sachlich begründet wird. Die angefochtene Entscheidung, die lediglich feststellt, dass die Anmeldung zurückgewiesen wird, weil keine vom Anmelder gebilligte Fassung im Sinne des Art. 113 (2) EPÜ 1973 vorliegt, auf die ein Patent erteilt werden könnte, ist unzureichend begründet, weil sie keine sachlichen Gründe dafür anführt, warum das, was vom Anmelder gebilligt wird, nicht den Patentierbarkeitserfordernissen des EPÜ entspricht.
In T 169/96 stellte die Kammer fest, dass das EPA gemäß Art. 113 (2) EPÜ 1973 an die Anträge des Anmelders oder Patentinhabers gebunden ist. Bei Haupt- und Hilfsanträgen bedeutet dies, dass das EPA auch an den Rang der Anträge gebunden ist. Bevor eine auf einem Hilfsantrag beruhende Entscheidung erlassen werden kann, muss der Hauptantrag geprüft und über ihn entschieden werden (T 484/88). Im vorliegenden Fall waren die Anmelder nur aufgefordert worden, ihr Einverständnis mit der Fassung gemäß dem Hilfsantrag III zu erklären. Daher bezog sich ihre ausdrücklich geäußerte Missbilligung notwendigerweise nur auf diese Fassung der Anmeldung. Somit waren Hilfsantrag I und II anhängig, als die nunmehr angegriffene Entscheidung erlassen wurde, und die unterbliebene Entscheidung über diese Anträge stellte einen Verstoß gegen Art. 113 (2) EPÜ 1973 dar. Die Nichtbefassung mit den dem Hilfsantrag III vorgehenden Anträgen verstieß außerdem gegen R. 68 (2) EPÜ 1973. Wird in einer Entscheidung über mehrere Anträge entschieden, so ist in dieser Entscheidung die Ablehnung jedes dieser Anträge zu begründen (s. T 234/86). Die Tatsache, dass der erste Prüfer in einer früheren Mitteilung eine vorläufige Auffassung geäußert hat, die möglicherweise auf diese Anträge anwendbar ist, kann eine Begründung in der Entscheidung selbst nicht ersetzen. Die Entscheidung muss erkennen lassen, welche Überlegungen für die Abteilung leitend waren, um zu der getroffenen Entscheidung zu kommen (T 234/86, s. auch T 1439/05).
In T 255/05 stellte die Kammer fest, dass der "Hilfsantrag" des Anmelders nicht nur einen, sondern eine ganze Reihe von Anträgen umfasste. Dabei war in keiner Weise angegeben, in welcher Reihenfolge die Kammer die vier Anträge und etwaige Kombinationsanträge prüfen sollte. Nach Art. 113 (2) EPÜ 1973 hat sich das EPA bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder vorgelegte oder gebilligte Fassung zu halten. Somit oblag es dem Anmelder, die Fassung festzulegen, auf deren Grundlage das Patent erteilt werden sollte. Für die Einreichung von Hilfsanträgen bedeutete dies, dass der Anmelder auch die Reihenfolge angeben musste, in der die Anträge geprüft werden sollten. Da der Anmelder jedoch auch nach einer entsprechenden Aufforderung durch die Kammer nicht eindeutig angab, in welcher Reihenfolge seine verschiedenen Anträge geprüft werden sollten und was genau jeder dieser Anträge umfasste, lag der Kammer keine vom Anmelder vorgelegte oder gebilligte Fassung im Sinne von Art. 113 (2) EPÜ 1973 und auch kein Antrag vor, den sie hätte prüfen können. Der "Hilfsantrag" des Anmelders konnte daher nicht berücksichtigt werden.
In T 888/07 befand die Kammer wie folgt: Verweigert die Prüfungsabteilung ihre Zustimmung zum zuletzt eingereichten, geänderten Anspruchssatz, der nach R. 86 (3) EPÜ 1973 die zuvor in der Akte enthaltenen Ansprüche ersetzen sollte, wird der vorherige Anspruchssatz, den die Prüfungsabteilung zu prüfen bereit war, der aber nicht als Hilfsantrag aufrechterhalten wurde, nicht automatisch wieder in das Verfahren aufgenommen. Die Kammer stellte fest, dass nach Art. 113 (2) EPÜ und nach der ständigen Rechtsprechung (s. z. B. T 237/96) eine Entscheidung nicht auf den vorherigen Anspruchssatz gestützt werden könne. Gemäß Art. 113 (2) EPÜ 1973 habe sich das EPA bei der Prüfung der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents und bei den Entscheidungen darüber an die vom Anmelder oder Patentinhaber vorgelegte oder gebilligte Fassung zu halten. Die Anmeldung mit der Begründung zurückzuweisen, dass die zuvor in der Akte enthaltenen Ansprüche nicht zulässig seien, hätte gegen Art. 113 (2) EPÜ 1973 verstoßen, weil diese Ansprüche nicht mehr anhängig waren.