4.1. Grundsatz der freien Beweiswürdigung
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Die Entscheidung G 2/21 (ABl. 2023, A85) befasst sich weitgehend mit diesem Grundsatz und seinen Folgen, insbesondere in den Nrn. 27 - 46 der Entscheidungsgründe; Gegenstand dieser Vorlage war in erster Linie die Frage, ob nachveröffentlichte Beweismittel zur Stützung der technischen Wirkung einer Erfindung bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden können oder nicht.
In G 2/21 wurden die Anwendung des Grundsatzespräzisiert, die anwendbare Rechtsprechung zusammengefasst und damit bestimmte Prinzipien bestätigt. Festhalten lassen sich insbesondere die folgenden Erwägungen in G 2/21, die hauptsächlich in den Nrn. 27 - 46 und 55 - 56 der Entscheidungsgründe enthalten sind:
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung kann abstrakt und allgemein so definiert werden, dass ein Rechtsprechungsorgan wie die Beschwerdekammern – unter Berücksichtigung des gesamten Vorbringens der Beteiligten und gegebenenfalls zulässig eingereichter oder aufgenommener Beweismittel – nach eigenem Ermessen und eigener Überzeugung ohne Beachtung formeller Regeln entscheiden darf und somit auch muss, ob eine streitige Tatsachenbehauptung als wahr oder falsch anzusehen ist.
Dies bedeutet nicht, dass die Beweiswürdigung willkürlich sein darf; die Beweismittel sind vielmehr umfassend und strikt zu beurteilen. Der einzig entscheidende Faktor ist, ob der Richter persönlich vom Wahrheitsgehalt der Tatsachenbehauptung überzeugt ist, d. h. für wie glaubhaft er ein Beweismittel einstuft. Dafür muss er alle Argumente für und gegen eine Tatsachenbehauptung im Verhältnis zum geforderten Beweismaß abwägen. Er bleibt dabei an die Gesetze der Logik und die auf Erfahrung beruhende Wahrscheinlichkeit gebunden. Die Gründe, die den Richter von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer angefochtenen Tatsachenbehauptung überzeugt haben, sind in der Entscheidung darzulegen.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung kann nicht dazu herangezogen werden, Beweismittel per se nicht zu berücksichtigen, sofern ein Beteiligter sie in zulässiger Weise vorgelegt hat und sich zur Stützung einer streitigen Schlussfolgerung darauf beruft und sie für die abschließende Entscheidung entscheidend sind. Solche Beweismittel grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen, würde dem Beteiligten, der sie vorlegt und sich darauf beruft, grundlegende verfahrensrechtliche Ansprüche vorenthalten, die in den EPÜ-Vertragsstaaten allgemein anerkannt und in den Artikeln 113 (1) und 117 (1) EPÜ verankert sind (s. auch T 1110/03, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 1797/09, Nr. 2.9 der Entscheidungsgründe; T 419/12, Nr. 2.1.3 der Entscheidungsgründe und T 2294/12, Nr. 1.1.3 der Entscheidungsgründe).
Diese Definition gilt gleichermaßen für Entscheidungen der administrativen Organe des EPA im Patenterteilungsverfahren.
Die im EPÜ vorgesehenen Entscheidungsorgane sind befugt und verpflichtet, im Einzelfall zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen hinreichend nachgewiesen sind. Entsprechend dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung trifft das jeweilige Organ seine Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren relevanten Beweise und aufgrund der freien Überzeugung, zu der es in der Frage gelangt ist, ob eine behauptete Tatsache als wahr und bewiesen anzusehen ist oder nicht. Freie Würdigung von zulässig eingereichten, entscheidungsrelevanten Beweismitteln bedeutet, dass es keine festen Regeln gibt, nach denen bestimmten Beweismitteln eine bestimmte Überzeugungskraft beigemessen oder abgesprochen wird.
Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern zur Beweiswürdigung rekapituliert die Große Beschwerdekammer in G 2/21 in den Nrn. 38 - 46 der Entscheidungsgründe.
Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Schluss, dass der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ein universell anwendbarer Grundsatz für die Bewertung von Beweismitteln durch eine Beschwerdekammer ist.
Infolgedessen wird in G 2/21 insbesondere in Bezug auf die Vorlagefragen dargelegt, dass Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben dürfen, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden.
Die Große Beschwerdekammer erkannte an, dass es notwendig ist, Leitlinien für die Anwendung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung in Bezug auf nachveröffentlichte Beweismittel zu formulieren, auf die eine behauptete, aber streitige technische Wirkung gestützt wird.