4.4.4 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
In T 663/02 stellte die Kammer fest, der Schritt des "Injizierens des Kontrastmittels für die Magnetresonanztomografie in eine von der Arterie entfernte Vene" sei als kleiner Routineeingriff anzusehen, dessen Vornahme mit der erforderlichen Sorgfalt und Sachkunde nicht mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden sei. Derartige Handlungen fielen nach dem engen Verständnis, von dem die Große Beschwerdekammer ausgeht (G 1/04 und G 1/07), aus dem Anwendungsbereich der Ausschlussbestimmung in Art. 53 c) EPÜ heraus. Eine Möglichkeit zur Beurteilung von Gesundheitsrisiken bestehe in der Verwendung einer Matrix, durch die sich die Wahrscheinlichkeit und die gesundheitlichen Folgen von Komplikationen eines medizinischen Eingriffs bei einer großen Anzahl von Patienten kombinieren ließen, um statistische Werte für Gesundheitsrisiken zu erhalten, die für die Entscheidung über das weitere Vorgehen verwendet werden könnten.
Dagegen befand die Kammer in T 1075/06, dass die bei Blutspenden durchgeführte Venenpunktion und die Entnahme von Blut aus dem Körper des Spenders einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellten, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordere und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt werde, mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden sei. Ein Verfahrensanspruch, der Schritte umfasse, die derartige Verfahren beinhalteten, sei ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers.
Auch in T 1695/07 befand die Kammer, dass ein Verfahren zur Behandlung von Blut, bei dem einem Patienten kontinuierlich Blut entnommen wird, das anschließend durch eine zirkulierende Leitung eines extrakorporalen Kreislaufs fließt und dem Patienten wieder zugeführt wird, ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers ist. Auch wenn das Verfahren mit der gebotenen professionellen ärztlichen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt wird, ist es mit einem "erheblichen Gesundheitsrisiko" verbunden, so die Kammer. Ein Gesundheitsrisiko gilt als "erheblich", wenn es über die Nebenwirkungen der in G 1/07 genannten Behandlungen wie Tätowieren, Piercen, Haarentfernung mittels optischer Strahlung und Mikrodermabrasion hinausgeht. Eine sachliche Analyse der absoluten oder relativen Risiken und ihrer Wahrscheinlichkeit aufgrund objektiver Anhaltspunkte ist kaum durchführbar und sollte deshalb nicht verlangt werden.
In T 2699/17 betraf die Anmeldung die geführte Expansion eines elastomeren Materials im Sulkus eines Zahns. Damit wurde das Zahnfleisch vom Zahn zurückgezogen, sodass ein geeigneter Zahnabdruck für die Herstellung einer Krone gemacht werden konnte. Unter Anwendung der in G 1/07 aufgestellten Kriterien befand die Kammer, dass eine geringfügige Verletzung des Epithels vorkommen konnte. Danach war zu prüfen, ob das Verfahren einen "erheblichen physischen Eingriff am Körper" darstellte, d. h. ob das Gesundheitsrisiko ein erhebliches im Sinne von G 1/07 war. Hierfür sind in der Rechtsprechung unterschiedliche Ansätze vorgeschlagen worden, nämlich die "Risikomatrix" in T 663/02 und ein "abstrakteres Risikokriterium" in T 1695/07. Die Kammer entschied sich für Letzteres, das sich auf die Fragen beschränkt "Liegt ein gewisses Gesundheitsrisiko vor?" und "Handelt es sich um ein erhebliches Risiko?". Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die vorliegenden Gesundheitsrisiken dem Niveau derer entsprachen, die in G 1/07 nicht als erheblich eingestuft worden waren (s. auch T 467/18).
Die Erfindung in T 434/15 betraf das Verfahren der Apharese, bei dem einem Patienten kontinuierlich Blut entnommen und durch eine Vorrichtung geleitet wird, in der ein bestimmter Blutbestandteil abgetrennt und gesammelt wird (im vorliegenden Fall Stamm-/Vorläuferzellen), und dem Patienten schließlich ohne diesen Bestandteil wieder zugeführt wird. Die Tatsache, dass ein bestimmtes Verfahren für ein hoch spezialisiertes Zentrum Routine ist, lässt nach Auffassung der Kammer nicht zwangsläufig den Schluss zu, dass es sich dabei um ein allgemein sicheres Routineverfahren handelt. Die Kammer erachtete die Apharese als Verfahren mit invasiven Techniken, die eine extrakorporale Manipulation eines menschlichen Organs ermöglichen, weswegen es mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden ist. Auch kann die Apharese nicht als allgemein sicheres und einfaches Routineverfahren angesehen werden, sondern muss vielmehr als Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers im Sinne des Art. 53 c) EPÜ gelten.