10. Sekundäre Beweisanzeichen für das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit
Ein als überraschend zu beurteilender Effekt kann als Anzeichen für erfinderische Tätigkeit gewertet werden (T 181/82, ABl. 1984, 401). Dazu müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen vorliegen. In T 21/81 (ABl. 1983, 15) wurde ausgeführt, dass ein Anspruch – auch wenn eine (möglicherweise unvorhergesehene) zusätzliche Wirkung erzielt wird – keine erfinderische Tätigkeit aufweist, wenn es aufgrund des Stands der Technik für den Fachmann naheliegend ist, zu einer anspruchsgemäßen Lösung zu gelangen, weil aus der Kombination der Lehren der bekannten Schriftstücke eine vorteilhafte Wirkung zu erwarten ist (s. T 365/86, T 350/87, T 226/88, T 1317/13). Auch in T 69/83 (ABl. 1984, 357) stellte die Kammer Folgendes fest: Zwang der Stand der Technik den Fachmann aufgrund eines wesentlichen Teils der bestehenden technischen Aufgabe zu einer bestimmten Lösung, so wird diese nicht zwangsläufig dadurch erfinderisch, dass damit gleichzeitig eine Teilaufgabe überraschend mitgelöst wird (s. auch T 231/97). In T 170/06 stellte die Kammer Folgendes fest: Wenn es für den Fachmann naheliegend ist, zur Lösung des wesentlichen Teils einer bestimmten Aufgabe die Lehren des Stands der Technik zu kombinieren, so wird die Lösung nicht grundsätzlich schon dadurch erfinderisch, dass mit einer zusätzlichen Wirkung gleichzeitig ein anderer Teil der Aufgabe gelöst wird – selbst wenn diese Wirkung unerwartet ist.
Weiterhin wurde in T 192/82 (ABl. 1984, 415) ausgeführt, dass es dem Fachmann freistehen muss, die besten gegebenen Mittel für seine Zwecke zu verwenden; zwar kann die Verwendung von Mitteln, die eine zu erwartende Verbesserung bewirken, durchaus patentfähig sein, wenn sie auf einer zusätzlichen Wirkung beruht, vorausgesetzt, dass dies eine Auswahl aus mehreren Möglichkeiten erforderlich macht. Fehlen jedoch entsprechende Alternativen, so liegt eine Einbahnstraßen-Situation vor, wo die Verwendung des Mittels trotz eines etwaigen unerwarteten Extra-Effekts in naheliegender Weise zu vorhersehbaren Vorteilen führt (s. auch T 766/92, T 1936/13). Auch in T 506/92 wurde ausgeführt, dass eine Zusatzwirkung, die dem Fachmann zwangsläufig aufgrund einer naheliegenden Maßnahme in den Schoß fällt, gemäß der Rechtspraxis des EPA lediglich einen Bonus darstellt, der – selbst als überraschender Effekt – keine erfinderische Tätigkeit zu begründen vermag (s. auch T 431/93, T 681/94, T 985/98, T 794/01, T 688/13, T 179/18). In T 848/94 war zur Lösung der bestehenden technischen Aufgabe eine Kombination von Maßnahmen erforderlich, die aus dem Stand der Technik nicht in der Weise hervorging, dass sie der Fachmann gewählt hätte (s. auch T 716/07). Deshalb befand er sich nicht in einer "Einbahnstraßen-Situation".
In T 936/96 vertrat die Kammer die Auffassung, sobald eine realistische technische Aufgabe definiert sei und festgestellt worden sei, dass eine bestimmte Lösung dieser Aufgabe vom Fachmann in Kenntnis des relevanten Stands der Technik ins Auge gefasst worden wäre, weise diese Lösung keine erfinderische Tätigkeit auf. Auch der Umstand, dass die beanspruchte Erfindung an sich noch weitere technische Aufgaben löse, ändere hieran nichts. Im vorliegenden Fall wurde die beanspruchte unerwartete Wirkung nicht als Anzeichen für das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit angesehen.
In T 227/89 stellte die Kammer fest, dass man bei der Beantwortung der Frage, welche Wirkung entscheidend und welche rein zufällig (ein sog. "Extra-Effekt") sei, von einem realistischen Ansatz ausgehen und die relative technische und praktische Bedeutung dieser Wirkung unter den jeweils gegebenen Umständen berücksichtigen müsse (s. auch T 732/89, T 729/90, T 1147/16). Für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit chemischer Stoffe werden auch häufig deren überraschende Eigenschaften herangezogen (s. dazu T 20/83, ABl. 1983, 419).
Gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist eine Verbesserung keine Voraussetzung für eine erfinderische Tätigkeit (s. auch dieses Kapitel I.D.4.5 "Alternative Lösung einer bekannten Aufgabe"). In T 154/87 wird noch darauf hingewiesen, dass die Erzielung eines überraschenden Effekts keine Voraussetzung für das Vorhandensein von erfinderischer Tätigkeit ist. Es kommt lediglich darauf an, dass sich der beanspruchte Gegenstand für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem verfügbaren Stand der Technik herleiten lässt (T 426/92, T 164/94, T 960/95, T 524/97, T 888/08).
In T 551/89 führte die Kammer aus, dass eine als Ergebnis einer naheliegenden Maßnahme zu erwartende Wirkung auch dann nicht zur Anerkennung der erforderlichen erfinderischen Tätigkeit beitragen kann, wenn das quantitative Ausmaß dieser Wirkung für den Fachmann überraschend ist. In diesem Fall stellt nämlich eine die Hoffnungen des Fachmanns quantitativ übertreffende Wirkung lediglich einen Extra-Effekt dar, der sich zwangsläufig aus der Verwendung einer naheliegenden Maßnahme ergibt und dem Fachmann ohne eigene erfinderische Leistung in den Schoß fällt (T 506/92, T 882/94).
In T 240/93 bezog sich die Anmeldung auf eine Vorrichtung zur chirurgischen Behandlung von Geweben durch Hyperthermie, die mit einer Hitzeabschirmung ausgestattet war. Die Anmeldung war von der Prüfungsabteilung mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass die kurze Behandlungsdauer von nur einer Stunde und weitere sich aus der Verwendung von Kühlmitteln ergebende vorteilhafte Wirkungen lediglich Extra-Effekte seien. Die Kammer hingegen war der Auffassung, dass in dem streitigen Fall die der Erfindung objektiv zugrunde liegende Aufgabe in der Bereitstellung einer Vorrichtung zur wirksamen kurzfristigen therapeutischen Behandlung einer gutartigen Hyperplasie der Prostata bestand. Angesichts der vielen beachtlichen praktischen Vorteile, die eine einstündige Hyperthermie-Behandlung für den Patienten mit sich bringe, könne die kurze Behandlungsdauer nicht lediglich als "Extra-Effekt" abgetan werden, sondern sei für die Erfindung ausschlaggebend und stelle die Ausgangsbasis für die objektive Aufgabenstellung dar.
In T 2015/20 hieß es in der Anmeldung, dass überraschenderweise festgestellt worden sei, dass Aclidinium bei der Behandlung von Atemwegserkrankungen, insbesondere von Asthma und COPD, am wirksamsten sei, wenn eine nominelle Aerosoldosis von rund 400 μg per Inhalation verabreicht werde. D1 offenbarte die Kombination eines Antagonisten der muscarinischen M3-Rezeptoren, wie z. B. Aclidiniumbromid, mit einem PDE4-Inhibitor sowie ein bis zwei Formulierungen mit 100 μg Aclidiniumbromid, enthielt aber keinen Hinweis auf eine optimierte Dosis von 400 μg. D2 war eine kurze Zusammenfassung eines Versuchs, bei dem COPD-Patienten eine Einzeldosis von 100, 300 oder 900 μg Aclidiniumbromid verabreicht worden war, führte jedoch nach Auffassung der Kammer eher weg von der optimierten Dosis von 400 μg für die Behandlung einer chronischen Krankheit wie Asthma. Sie kam daher zu dem Schluss, dass der in Anspruch 1 definierte Gegenstand nicht das naheliegende Ergebnis von Routineversuchen war, sondern vielmehr das unerwartete Ergebnis einer Studie, und befand ihn somit für erfinderisch.
- T 1356/21
Catchword:
1. Novelty in the case of purpose-limited product claims pursuant to Article 54(5) EPC relying on a dosage regimen defined by a numerical range, see point 2.6 of the reasons. 2. Limits to the application of the concept of bonus effect, see point 3.4.3 of the reasons.