1.3. Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
Ein Gegenstand, der dem Fachmann, der allgemeines Fachwissen heranzieht, zumindest implizit in der Anmeldung in der eingereichten Fassung offenbart ist, ist Teil ihres Inhalts (s. G 2/10, ABl. 2012, 376). In T 860/00 wurde darauf hingewiesen, dass auch die in der Patentanmeldung implizierte Offenbarung – d. h. das, was für jeden Fachmann zwangsläufig aus der Patentanmeldung als Ganzes hervorgeht (etwa aufgrund von grundlegenden naturwissenschaftlichen Gesetzen) – im Hinblick auf die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ 1973 relevant ist (s. auch z. B. T 947/05, T 1772/06, T 1041/07, T 1125/07, T 2541/11, T 2273/12, T 389/13, T 2267/14, T 1690/15).
Wesentlich ist es, die Lehre zu ermitteln, die in der ursprünglichen Offenbarung tatsächlich enthalten ist. Diese Vorgehensweise kann zur Ermittlung eines Gegenstands führen, der nicht explizit in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart war, aber trotzdem unmittelbar und eindeutig aus ihrem Inhalt hergeleitet werden kann. Eine wörtliche Stützung ist nach Art. 123 (2) EPÜ nicht erforderlich (s. z. B. T 667/08, T 2177/11, T 1728/12, T 801/13, T 640/14).
In T 823/96 stellte die Kammer fest, dass unter einer "impliziten Offenbarung" nicht ein Sachverhalt zu verstehen ist, der nicht zum technischen Informationsgehalt eines Dokuments gehört, von diesem aber möglicherweise nahegelegt wird. Als "implizite Offenbarung" ist danach nur etwas anzusehen, was zwar nicht ausdrücklich erwähnt wird, sich aber klar und eindeutig aus den ausdrücklichen Aussagen ergibt (s. auch z. B. T 1125/07, T 1673/08, T 583/09, T 2016/11, T 49/13; T 2842/18 verweist auf diese Definition als ständige Rechtsprechung; zu Fällen, in denen implizite Gegenstände von lediglich naheliegenden Gegenständen abgegrenzt wurden, s. auch unten Kapitel II.E.1.3.4 a)).
In T 917/94 entschied die Kammer, dass das Weglassen eines Anspruchsmerkmals nicht gegen Art. 123 (2) EPÜ 1973 verstoße, wenn dieses Merkmal implizit durch zwei andere Merkmale definiert werde; da es daher überflüssig sei, schaffe dieses Weglassen keinen Gegenstand, der über den der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgehe.
In T 1171/08 stellte die Kammer fest, dass die Zweckbestimmung als funktionelles Merkmal in einem Verwendungsanspruch den Anspruch auf die Ausführungsformen beschränkt, die den Zweck erfüllen. Nur insofern mag die Zweckbestimmung implizit Merkmale umfassen, welche für das Erreichen der angestrebten Selektivität erforderlich sind. Sie kann aber keinesfalls als Ersatz für die in einer Anmeldung konkret im Zusammenhang offenbarten wesentlichen Merkmale dienen. Abschließend entschied die Kammer, dass sich die neue Merkmalskombination für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig aus der ursprünglichen Anmeldung erschloss.
- T 367/20
Catchword:
To assess whether an amended patent claim contains added subject-matter under Article 123(2) EPC, the claimed subject-matter must first be determined by interpreting the claim from the perspective of the person skilled in the art. In a second step, it must be assessed whether that subject-matter is disclosed in the application as filed (Reasons 1.3.8 to 1.3.10).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”