2.4. Ältere Rechte – Artikel 54 (3) EPÜ
Nach Art. 54 (3) EPÜ gilt auch als Stand der Technik der Inhalt der europäischen Patentanmeldungen in der ursprünglich eingereichten Fassung, deren Anmeldetag vor dem in Art. 54 (2) EPÜ genannten Tag liegt und die erst an oder nach diesem Tag veröffentlicht worden sind. Derartige frühere Anmeldungen gehören jedoch nur insoweit zum Stand der Technik, als es die Neuheit betrifft, und bleiben bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit außer Betracht. Auch hier ist der "Anmeldetag" im Sinne des Art. 54 (2) und (3) EPÜ daher gegebenenfalls der Prioritätstag (s. auch Richtlinien G‑IV, 5.1 – Stand März 2022).
Im Rahmen der EPÜ-Revision im Jahr 2000 wurde der frühere Art. 54 (4) EPÜ 1973 gestrichen, sodass jede europäische Patentanmeldung, die unter Art. 54 (3) EPÜ fällt, zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung für sämtliche Vertragsstaaten des EPÜ zum Stand der Technik gehört. Der revidierte Art. 54 (3) EPÜ findet Anwendung auf europäische Patentanmeldungen, die ab Inkrafttreten des EPÜ 2000 eingereicht werden. Der gestrichene Art. 54 (4) EPÜ 1973 findet weiterhin Anwendung auf europäische Patente, die bei Inkrafttreten des EPÜ 2000 bereits erteilt sind, und auf Patentanmeldungen, die bei Inkrafttreten des EPÜ 2000 anhängig sind.
Im Fall T 1926/08 reichten die Patentinhaber zwei Anspruchssätze für unterschiedliche Vertragsstaaten ein, um Neuheit gegenüber dem Dokument D1 zu begründen. Das Streitpatent wurde vor Inkrafttreten des EPÜ 2000 erteilt. Strittig war die Frage, ob R. 87 EPÜ 1973 eine Regel zur Umsetzung von Art. 54 (4) EPÜ 1973 ist oder ob die Situation unter Art. 123 und R. 138 EPÜ fällt. R. 87 EPÜ 1973 lässt – sowohl bei einer früheren europäischen Patentanmeldung, die nach Art. 54 (3) und (4) EPÜ 1973 zum Stand der Technik gehört, als auch beim Bestehen eines älteren nationalen Rechts – unterschiedliche Patentansprüche, Beschreibungen und Zeichnungen für verschiedene Staaten zu, während in R. 138 EPÜ 2000 nur der letztere Fall vorgesehen ist. Die Kammer befand, dass R. 87 EPÜ 1973 weiterhin auf europäische Patente anwendbar ist, die vor Inkrafttreten des EPÜ 2000 erteilt wurden, weil sie eine Regel zur Umsetzung von Art. 54 (4) EPÜ 1973 ist. Sie ließ daher einen gesonderten Anspruchssatz zu.
In J 5/81 (ABl. 1982, 155) vertrat die Kammer die Auffassung, dass eine veröffentlichte europäische Patentanmeldung gegenüber Anmeldungen, die nach dem Anmelde- oder Prioritätstag, aber vor der Veröffentlichung der Anmeldung eingereicht worden sind, Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ 1973 wird, und zwar rückwirkend mit dem Anmelde- oder Prioritätszeitpunkt; dies dürfte aber nur für den Fall gelten, dass diese "ältere Anmeldung" zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch existent war.
In T 447/92 war der gesamte Inhalt eines früheren Dokuments im Sinne des Art. 54 (3) und (4) EPÜ 1973 für die Neuheitsfrage als Stand der Technik zu betrachten. Die Kammer wies darauf hin, dass die Beschwerdekammern den Offenbarungsgehalt in einem solchen Fall stets sehr restriktiv auslegen, um die Gefahr einer Selbstkollision zu verringern. Sonst würde nach Meinung der Kammer ungewollt das Prinzip unterlaufen, dass Dokumente im Sinne des Art. 54 (3) EPÜ 1973 bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht in Betracht gezogen werden.