4.4.4 "Chirurgische Behandlung" in der Rechtsprechung im Anschluss an G 1/07
Nach Art. 53(c) Satz 2 EPÜ gilt das Patentierungsverbot "nicht für Erzeugnisse, insbesondere Stoffe oder Stoffgemische, zur Anwendung in einem dieser Verfahren."
In G 1/07 wurde festgestellt, dass ein einzelner chirurgischer Verfahrensschritt ausreicht, um ein mehrschrittiges Verfahren als nicht patentfähig anzusehen. Auf die Frage, ob ein Mediziner das beanspruchte Verfahren dann verletzen würde, kommt es nicht an. In der Entscheidung T 775/97 wurde dieser Ansatz auf bestimmte Erzeugnisse übertragen. Der Patentanspruch betraf ein neues Erzeugnis, welches aus zwei an sich bekannten Teilen durch einen chirurgischen Schritt im menschlichen Körper hergestellt wurde. Die Kammer entschied in diesem Fall, dass kein europäisches Patent mit Ansprüchen erteilt werden kann, die auf eine neue und möglicherweise sogar erfinderische Art der Verwendung von Materialien oder Vorrichtungen, insbesondere Endoprothesen, gerichtet sind, die eine chirurgische Behandlung umfasst. Gleiches gilt für Erzeugnisansprüche, die durch eine Konstruktion gekennzeichnet sind, die nur nach Ausführung eines chirurgischen Verfahrensschritts im menschlichen oder tierischen Körper hergestellt werden kann.
In T 1731/12 folgte die Kammer T 775/95 und führte diesen Ansatz fort. Sie stellte fest, dass eine Vorrichtung, die durch ein Merkmal definiert ist, das nur durch einen chirurgischen oder therapeutischen Schritt erzeugt werden kann, nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgenommen sei. Sie stimmte der Überlegung zu, dass ein durch einen chirurgischen Schritt definiertes Erzeugnis ohne diesen gar nicht existieren kann, so dass der chirurgische Schritt zum beanspruchten Erzeugnis dazugehört. Der Ausschluss von Erzeugnissen widerspricht auch nicht Art. 53 c) Satz 2 EPÜ. Danach ist die Patentierung von Erzeugnissen erlaubt, wenn diese für die Nutzung in therapeutischen oder chirurgischen Verfahren vorgesehen sind. Auch dadurch ist die Freiheit von Human- und Veterinärmedizinern eingeschränkt, wie beispielsweise auch in G 1/07 diskutiert wird. Die Kammer sah allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen den Handlungen "benutzen" (bzw. gebrauchen, einsetzen) und "herstellen" von Erzeugnissen. Dieser wesentliche Unterschied liege darin, dass die Benutzung eines patentgeschützten Gegenstandes in der Regel erlaubt sei, nachdem der Gegenstand ordnungsgemäß erworben wurde. Um ein patentgeschütztes Erzeugnis herstellen zu dürfen, müsste das medizinische Personal aber eine Lizenz für das Herstellungsverfahren erwerben, was – im Falle eines chirurgischen oder therapeutischen Verfahrensschritts im Herstellungsverfahren – genau in die Freiheit des medizinischen Personals eingreifen würde, die durch die Patentierungsausschlüsse nach Art. 53 c) EPÜ geschützt sein sollte.