5. Beurteilung des technischen Charakters
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Die frühere Rechtsprechung der Beschwerdekammern verwendete den sog. Beitragsansatz, wonach eine Erfindung technischen Charakter hat, wenn sie einen technischen Beitrag zum Stand der Technik auf einem Gebiet leistet, das nicht nach Art. 52 (2) EPÜ 1973 vom Patentschutz ausgeschlossen ist (T 121/85, T 38/86, ABl. 1990, 384; T 95/86, T 603/89, ABl. 1992, 230; T 71/91, T 236/91, T 833/91, T 77/92). Hierbei wurde der Stand der Technik noch in einem gewissen Umfang berücksichtigt (T 258/03, ABl. 2004, 575; s. T 769/92, ABl. 1995, 525).
In späteren Entscheidungen wurde jeder Vergleich mit dem Stand der Technik im Rahmen der Prüfung auf Vorliegen einer Erfindung als untauglich erachtet.
In T 1173/97 (ABl. 1999, 609) gab die Kammer den "Beitragsansatz" bewusst auf und befand, dass die Feststellung, ob die Voraussetzungen des Art. 52 (2) und (3) EPÜ erfüllt sind, anhand von bereits aus dem Stand der Technik bekannten Merkmalen getroffen werden kann. Die Ermittlung des technischen Beitrags, den eine Erfindung zum Stand der Technik leistet, ist eher ein probates Mittel zur Prüfung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit als zur Entscheidung der Frage, ob das Patentierungsverbot nach Art. 52 (2) und (3) EPÜ 1973 greift. In T 931/95 (ABl. 2001, 441) wurde festgestellt, dass das EPÜ jeder Grundlage entbehrt, bei der Prüfung, ob die fragliche Erfindung als eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ 1973 anzusehen ist, zwischen "neuen Merkmalen" und Merkmalen der Erfindung, die aus dem Stand der Technik bekannt sind, zu unterscheiden. Daher fehlt auch die Rechtsgrundlage, hierbei den sog. Beitragsansatz anzuwenden (s. auch T 1001/99, T 388/04, ABl. 2007, 16; T 619/02, ABl. 2007, 63; T 553/02; T 258/03, ABl. 2004, 575).
In T 1543/06 stellte die Kammer fest, dass der technische Charakter als ein von den übrigen Erfordernissen des Art. 52 (1) EPÜ – insbesondere von denen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit – getrenntes und unabhängiges Erfordernis angesehen wird, dessen Erfüllung dementsprechend ohne Berücksichtigung des Stands der Technik beurteilt werden kann.
In T 258/03 (ABl. 2004, 575, s. auch T 154/04, ABl. 2008, 46) stellte die Kammer fest, dass die Feststellung, dass es sich bei dem beanspruchten Gegenstand um eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ 1973 handelt, im Prinzip eine Voraussetzung für die Prüfung auf Neuheit, erfinderische Tätigkeit und gewerbliche Anwendbarkeit ist, da diese Erfordernisse nur für Erfindungen definiert sind (vgl. Art. 54 (1) EPÜ 1973, Art. 56 EPÜ 1973 und Art. 57 EPÜ 1973). Der Aufbau des EPÜ legt somit nahe, dass es ohne jede Kenntnis des Stands der Technik (einschließlich des allgemeinen Fachwissens) möglich sein muss festzustellen, ob ein Gegenstand nach Art. 52 (2) EPÜ 1973 vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
Auch in G 1/19 hielt die Große Kammer fest, dass die Beurteilung, ob ein Verfahren, das technische Mittel umfasst, eine Erfindung im Sinne des Art. 52 (1) EPÜ ist, ohne Würdigung des Stands der Technik erfolgt (T 258/03, T 388/04). Nur im Kontext der zweiten Hürde im Zwei-Hürden-Test wird die Erfindung im Verhältnis zum Stand der Technik geprüft.