6. Rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren
Bei einem Inter-partes-Verfahren wie dem Einspruchsverfahren ist der Anspruch auf rechtliches Gehör untrennbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung verbunden. Keiner der Beteiligten darf von der Zahl der Gelegenheiten zur mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme her bevorzugt werden. Die Einspruchsabteilung hat deshalb darauf zu achten, dass die Parteien ihre Sachvorträge in vollem Umfang austauschen können und gleich oft Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Halte es die Einspruchsabteilung für sachdienlich, dass mehrmals Schriftsätze ausgetauscht würden, so müsse sie jede Seite gleich oft anhören. Die Einspruchsabteilung könne also den Einsprechenden auffordern, sich zur Erwiderung auf die Einspruchsschrift zu äußern, müsse in diesem Fall aber den Patentinhaber ebenso auffordern, sich zu dieser Gegenerwiderung zu äußern. Daraufhin müsse sie wiederum entscheiden, ob sie es für sachdienlich halte, dass ein drittes Mal Schriftsätze ausgetauscht werden. Dass R. 79 (3) EPÜ (R. 57 (3) EPÜ 1973) es der Einspruchsabteilung anheimstelle, die Einsprechenden aufzufordern, sich zur Einspruchserwiderung zu äußern ("wenn sie dies für sachdienlich erachtet") dürfe keinesfalls als Ermächtigung verstanden werden, von den grundlegenden Prinzipien der Gleichbehandlung abzuweichen (s. T 190/90; T 682/89, T 439/91).
In T 669/90 (ABl. 1992, 739) wird Folgendes festgestellt: Verleitet die Einspruchsabteilung einen Verfahrensbeteiligten zu der Annahme, er brauche zur Wahrung seiner Interessen zu den von der Gegenpartei eingereichten neuen Tatsachen und Beweismitteln nicht Stellung zu nehmen, und bilden diese neuen Tatsachen und Beweismittel später die Grundlage für eine ihn beschwerende Entscheidung, so hatte er keine Gelegenheit im Sinne des Art. 113 (1) EPÜ, sich dazu zu äußern. Eine solche Verfahrensweise ist unbillig und verstößt gegen den Grundsatz des guten Glaubens zwischen dem EPA und den Verfahrensbeteiligten (vgl. T 532/91, T 678/06). Eine solche unterschiedliche Behandlung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
In T 487/13 stellte die Kammer fest, dass die Einspruchsabteilung mit ihrer Entscheidung, die Hilfsanträge 4 bis 6 unmittelbar nach der Zulassung des verspätet eingereichten Dokuments D10 nicht zuzulassen, den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt hat, der untrennbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung verbunden ist. Dies stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Da diese neuen Anträge in direkter Reaktion auf eine Änderung des Verfahrensgegenstands eingereicht wurden, müssen sie als rechtzeitig eingereicht gelten, und es lag nicht im Ermessen der Einspruchsabteilung, sie unberücksichtigt zu lassen.
S. neben den folgenden Fällen auch in diesem Kapitel IV.C.3.4.6 "Gelegenheit zur Stellungnahme zu neu geltend gemachten Einspruchsgründen".
- T 2274/22
Zusammenfassung
In T 2274/22 war ein Mitglied der Öffentlichkeit von Einsprechenden-Seite (Herr T.) vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung unbeabsichtigt dem virtuellen Dolmetscher-Besprechungsraum zugeordnet worden, wo er mehr als 10 Minuten mithörte, bevor er die anderen Besprechungsteilnehmer darüber in Kenntnis setzte und ausgeschlossen wurde. Während dieser Zeit kommunizierte Herr T. dem zugelassenen Vertreter der Einsprechenden und seinem Kollegen Details aus dem mitgehörten Inhalt der Vorbesprechung. Kurz nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung legte der Vertreter der Einsprechenden den obigen Vorfall offen. Die Patentinhaberin befürchtete eine Benachteiligung und sprach dabei eine Neubesetzung der Einspruchsabteilung an. Die Einsprechende stellte daraufhin mit einem Kurzprotokoll die erhaltenen Informationen schriftlich zur Verfügung. Die Patentinhaberin war der Auffassung, diese gingen entgegen der Aussage des Vorsitzenden über den Inhalt des Ladungszusatzes hinaus, und beantragte schriftlich die Ablehnung der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit.
Zur Frage, ob ein schwerwiegender Verfahrensfehler im Vorfeld der mündlichen Verhandlung begangen wurde, erläuterte die Kammer, die Anwesenheit einer Partei in einer Vorbesprechung zwischen einem oder mehreren Mitgliedern einer Einspruchsabteilung und den Dolmetschern stelle grundsätzlich einen Verfahrensfehler dar, unabhängig davon, ob dieser durch einen technischen oder menschlichen Fehler verursacht geworden sei. Ein solcher Verfahrensfehler müsse aber nicht zwangsläufig in einen schwerwiegenden münden. Vielmehr könne er dadurch geheilt werden, dass die abwesende Partei vor Eröffnung der sachlichen Debatte auf den gleichen Kenntnisstand wie die anwesende gebracht werde.
Nach Ansicht der Kammer konnte allein die Anwesenheit von Herrn T. beim Dolmetscher-Briefing auch keine Besorgnis der Befangenheit der Einspruchsabteilung begründen. Denn, da die Zuschaltung eines Parteivertreters in den virtuellen Besprechungsraum vorliegend unstreitig versehentlich erfolgt sei, und die Einspruchsabteilung sie umgehend beendet habe, sobald sie ihrer gewahr wurde, bestehe objektiv kein Verdacht, die Einspruchsabteilung habe hier willentlich für eine Bevorzugung der Einsprechenden gesorgt oder diese billigend in Kauf genommen. Jedoch sei die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung den Vorfall nicht von sich aus angesprochen und der Patentinhaberin mitgeteilt habe, dazu geeignet, bei der Patentinhaberin den Eindruck einer Parteilichkeit zu erwecken. Dass die Einspruchsabteilung sich zudem auch nach Intervention der Einsprechenden, die ausdrücklich auf einen möglichen Verfahrensfehler hingewiesen hatte, nicht aktiv an der Aufklärung des Vorfalls beteiligte, sondern den Vorschlag der Einsprechenden, eine schriftliche Zusammenfassung einzureichen, abwartete und diesem lediglich zustimmte, könne einen solchen Eindruck noch verstärken. Dass eine inhaltliche Auseinandersetzung der Einspruchsabteilung mit dem Kurzprotokoll ausgeblieben sei, stelle aus Sicht eines objektiven Beobachters einen weiteren Umstand dar, der zum Anschein ihrer Befangenheit beitrage.
Die Kammer rief in Erinnerung, dass Besorgnis der Befangenheit bereits dann gegeben ist, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, auch wenn andere Tatsachen dagegensprechen mögen. Vorliegend war nach Ansicht der Kammer eine Befangenheit der Einspruchsabteilung objektiv zu besorgen, da diese keine der aufgetretenen Gelegenheiten ergriffen hatte, die Patentinhaberin selbst über den Vorfall zu informieren und selbst zu dessen Aufklärung beizutragen. Daher hätte dem Antrag der Patentinhaberin auf Ablehnung ihrer Mitglieder analog zu Art. 24(3) EPÜ stattgegeben und die Einspruchsabteilung neu besetzt werden müssen.
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die angefochtene Entscheidung nicht von der Einspruchsabteilung in ihrer ursprünglichen Besetzung hätte getroffen werden dürfen. Dass dies dennoch geschah, stelle einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Falls an eine neu zu besetzende Einspruchsabteilung führe. Darauf wie groß der ursprüngliche Fehler war, komme es in der Regel nicht an, wenn er letztlich ursächlich für einen wesentlichen Verfahrensmangel gewesen sei. Entscheidend sei allein, dass der aus ihm resultierende Verfahrensmangel als so schwerwiegend eingestuft wird, dass er zu einer Zurückverweisung führt. Dies sei vorliegend der Fall. Die Kammer wies zuletzt darauf hin, dass wegen der räumlichen Distanz und nur mittelbaren Präsenz in einer Videokonferenz, hier ein "schlechter Eindruck" zudem schneller entstehen könne und somit auch die Schwelle sinke, ab der eine Befangenheit befürchtet werden könne. Daher seien an eine ordnungsgemäße Verhandlungsführung und insbesondere den Umgang mit technischen Pannen hohe Maßstäbe anzulegen.