3.2. Gegenstandsprüfung
Nach Art. 12 (3) VOBK 2020 müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen; sie sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen.
Es steht im Ermessen der Kammer, Vorbringen eines Beteiligten nicht ins Verfahren zuzulassen, soweit es die Erfordernisse des Art. 12 (3) VOBK 2020 nicht erfüllt, s. Art. 12 (4) VOBK 2020. Art. 12 (3) VOBK 2020 entspricht im Wesentlichen Art. 12 (2) VOBK 2007.
In T 2457/16 wurden etliche Hilfsanträge vom Patentinhaber mit der Beschwerdebegründung eingereicht. Die Beschwerdekammer führte aus, dass die in diesen hilfsweise gestellten Anträgen vorgenommenen Änderungen und deren Zweck von dem Patentinhaber nicht erläutert wurden. Der Patentinhaber hat die Kammer und den Einsprechenden im Unklaren darüber gelassen hat, in welcher Reihenfolge die Hilfsanträge zu prüfen sind, welche Änderungen genau in diesen Anträgen durchgeführt wurden und worin deren Zweck besteht. Eine solche Vorgehensweise ist unvereinbar mit dem Erfordernis des Art. 12 (3) VOBK 2020 eines vollständigen Sachvortrags einer Partei in der Beschwerdebegründung, denn dadurch überträgt der Patentinhaber die eigentlich ihm obliegende Aufgabe auf den Einsprechenden und die Kammer, unter der Vielzahl von Anträgen denjenigen herauszufiltern, der letzten Endes gewährbar sein könnte (s. auch R 11/08).
In T 412/18 wies die Kammer darauf hin, dass ein Vorbringen, bei dem zu einem konkreten Einwand die stützenden Gründe aus Teilen des übrigen Beschwerdevorbringens, die ihrerseits in keinem unmittelbar erkennbaren sachlichen Bezug zu dem erhobenen Einwand stehen, zusammengesucht werden müssen, keinen vollständigen Sachvortrag im Sinne des Art. 12 (3) VOBK 2020 darstellt. Dies widerspräche dem Zweck dieser Vorschrift, der auch darin zu verstehen ist, dass die Beteiligten zu einem vollständigen Vorbringen zu Beginn des Verfahrens verpflichtet sind, sodass der Kammer (und den Verfahrensbeteiligten) eine Beschwerdeakte vorliegt, die den vollständigen Sachvortrag aller Beteiligten enthält, und ein taktischer Verfahrensmissbrauch verhindert wird (vgl. hierzu auch mit Bezug zum damaligen Art. 12 (2) VOBK 2007 T 1488/08). Die Kammer berücksichtigte daher den Einwand zur erfinderischen Tätigkeit nicht.
In T 706/17 wies die Kammer darauf hin, dass der pauschale Hinweis auf das Vorbringen im Einspruchsverfahren nicht genügt, um festzustellen, warum die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden sollte. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) hat nach Art. 108 EPÜ, R. 99(2) EPÜ und nach Art. 12 (3) VOBK 2020 bzw. Art. 12 (2) VOBK 2007 die Obliegenheit, mit seiner Beschwerdebegründung einen vollständigen Sachvortrag zu präsentieren, der es der Beschwerdekammer und den übrigen Beteiligten ermöglicht, ohne weitere Nachforschungen zu verstehen, aus welchen Gründen die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden soll. Die Einwände des Beschwerdeführers zur erfinderischen Tätigkeit wurden deshalb nach Art. 12 (4) VOBK 2007 nicht im Beschwerdeverfahren berücksichtigt.
In R 8/16 wies die Große Beschwerdekammer das Argument zurück, dass die Kammer die aktenkundigen, vor der Einspruchsabteilung geltend gemachten Argumente des Antragstellers hätte kennen und daher hätte berücksichtigen müssen. Die Kammer stellte fest, dass sie nicht verpflichtet sei, die ganze Akte des erstinstanzlichen Verfahrens durchzugehen. Gemäß Art. 12 (1) und (2) VOBK 2007 obliegt es den Beteiligten, Fragestellungen, soweit notwendig ("to the extent necessary"), im Beschwerdeverfahren erneut vorzubringen. In T 16/14 erläuterte die Kammer, dass aus den Worten "to the extent necessary" (s. R 8/16) nicht abgeleitet werden kann, dass die Kammer die Schriftsätze der ersten Instanz zu berücksichtigen hat. Die Kammer versteht diese Worte so, dass Vorbringen, das für die in der Beschwerde zu behandelnden Fragen nicht relevant ist, nicht erneut vorgebracht werden muss. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Erfordernisse des Art. 12 (2) VOBK 2007 durch den bloßen Verweis auf den erstinstanzlichen Vortrag nicht erfüllt waren, und daher das Vorbringen des Beschwerdeführers (Einsprechenden) hinsichtlich der Dokumente E1/E1a und E2/E2a gemäß Art. 12 (4) VOBK 2007 nicht im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen war.
S. auch Kapitel V.A.2.6.3g) "Vollständiges Beschwerdevorbringen nach Art. 12 (3) VOBK 2020 im Rahmen der Zulässigkeit der Beschwerde".
- T 559/20
Zusammenfassung
In T 559/20 ließ die Kammer die Hilfsanträge 1 bis 3 gemäß Art. 12 (5) i. V. m. Art. 12 (3) VOBK nicht zu, da sie nach ihrer Auflassung ohne erkennbare inhaltliche Begründung gestellt worden waren.
Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) hatte lediglich argumentiert, die Hilfsanträge schränkten den Schutzumfang des Gegenstands des Hauptantrags weiter ein, so dass sie ebenso wie der Hauptantrag neu und erfinderisch seien.
Da diese Hilfsanträge aber bereits Gegenstand der angefochtenen Entscheidung waren, wäre nach Ansicht der Kammer zu erwarten gewesen, dass sich die Beschwerdeführerin mit den Entscheidungsgründen zu den Hilfsanträgen auseinandersetzt.
Zudem sei die von der Beschwerdeführerin vorgebrachte pauschale Begründung, die Hilfsanträge seien eingeschränkter und daher aus demselben Grund wie der Hauptantrag neu und erfinderisch, ersichtlich nicht geeignet, ihre Gewährbarkeit für den Fall zu begründen, dass die Kammer den Hauptantrag für nicht gewährbar hält. Daher komme diese Begründung dem völligen Fehlen einer Begründung gleich.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”