10. Sekundäre Beweisanzeichen für das Vorliegen erfinderischer Tätigkeit
Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern (s. T 119/82, ABl. 1984, 217; T 48/86) kann die Anerkennung einer erfinderischen Tätigkeit manchmal durch den Nachweis erreicht werden, dass ein bekanntes Vorurteil, d. h. eine weit verbreitete, aber falsche Vorstellung von einem technischen Sachverhalt, überwunden werden musste. In solchen Fällen liegt die Beweislast beim Patentinhaber (oder Anmelder), der, beispielsweise durch geeignete Fachliteratur, belegen muss, dass das geltend gemachte Vorurteil tatsächlich bestand (T 60/82, T 631/89, T 695/90, T 1212/01). Für den Beleg eines Vorurteils wird ein hoher Maßstab an die Beweisführung angelegt (T 1989/08).
Unter einem auf einem bestimmten Gebiet bestehenden Vorurteil versteht man eine in den betreffenden Fachkreisen allgemein oder weit verbreitete Ansicht oder vorgefasste Meinung. Das Vorliegen eines Vorurteils wird in der Regel durch Bezugnahme auf Literatur oder Nachschlagewerke glaubhaft gemacht, die vor dem Prioritätstag veröffentlicht worden sind. Das Vorurteil muss am Prioritätstag bereits bestanden haben; ein Vorurteil, das sich erst später entwickelt hat, ist für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ohne Belang (T 341/94, T 531/95, T 452/96, T 1212/01, T 25/09, T 99/19).
Eine Aussage in einer einzelnen Patentschrift belegt grundsätzlich nicht das Vorliegen eines Vorurteils (T 19/81, ABl. 1982, 51; T 392/88; T 900/95), da den technischen Informationen in einer Patentschrift oder einem wissenschaftlichen Artikel möglicherweise besondere Voraussetzungen oder die persönliche Ansicht des Verfassers zugrunde liegen. Dieses gilt jedoch nicht für Ausführungen in einem Standardwerk oder Lehrbuch, in dem das allgemeine Fachwissen auf dem fraglichen Gebiet zusammengefasst wird (T 321/87; T 392/88; T 453/92; T 1212/01).
In T 515/91 betrachtete die Kammer "ABC Naturwissenschaft und Technik" als Standardwerk.
In T 943/92 wurde das Vorliegen eines Vorurteils durch ein Fachbuch belegt, welches das Fachwissen auf dem Spezialgebiet des angefochtenen Patents widerspiegelte. Dieses Fachbuch beinhalte nicht die Meinung eines einzigen fachmännischen Autors, sondern die der Fachwelt, denn es resultierte aus der Mitarbeit "zahlreicher anerkannter Wissenschaftler, Techniker, Praktiker sowie Verbände und Institute". Allgemeine kritische Bemerkungen in einem einzigen Lehrbuch belegen nicht hinreichend, dass ein Vorurteil besteht, wenn eine Vielzahl von Vorveröffentlichungen auf das Gegenteil hin deuten (T 134/93).
Für die Anerkennung eines Vorurteils gelten nach allgemeiner Rechtsprechung der Beschwerdekammern enge Grenzen. Das tatsächliche Vorliegen eines Vorurteils setzt eine weitverbreitet herrschende, aber falsche Lehrmeinung der gesamten Fachwelt voraus. Derjenige, der sich auf die Überwindung eines Vorurteils beruft, muss sich mit seiner Lösung über die herrschende Lehrmeinung der Fachwelt, d. h. über ihre einhelligen Erfahrungen und Vorstellungen, hinwegsetzen und kann nicht nur die ablehnende Haltung einzelner Fachleute oder Firmen geltend machen (T 531/95; s. auch T 62/82, T 410/87, T 500/88, T 74/90, T 793/97, T 2453/09).
In T 2044/09 wurde eine Erklärung eines Sachverständigen auf dem betreffenden Gebiet nicht als Beweis dafür angesehen, dass am Prioritätstag im Stand der Technik ein Vorurteil bestand: Die fragliche Erklärung gebe vielmehr die Auffassung eines einzelnen Sachverständigen wieder, die dieser fast zehn Jahre nach dem Prioritätstag geäußert habe.
In T 69/83 (ABl. 1984, 357) stellte die Kammer Folgendes fest: wird mit dem Weglassen einer nach dem Stand der Technik vorteilhaften Komponente eines Stoffgemisches bloß der damit verbundene Nachteil in Kauf genommen, so liegt hierin keine Überwindung eines Vorurteils. Oder mit anderen Worten: das bewusste Inkaufnehmen eines Nachteils spricht nicht für die Überwindung eines Vorurteils, wenn der Nachteil einfach in Kauf genommen oder das Vorurteil bloß ignoriert wurde (T 262/87, T 862/91).
In T 1989/08 machte die Kammer darauf aufmerksam, dass damit der Beweismaßstab fast so hoch ist wie für den Beleg allgemeinen Fachwissens. Es genügt z. B. nicht, dass die Meinung oder Vorstellung von einer begrenzten Zahl von Personen vertreten wird oder in einem bestimmten Unternehmen, gleich welcher Größe, vorherrscht. Im vorliegenden Fall umfassten die vorgebrachten Beweismittel zum Beleg des angeblichen Vorurteils insgesamt nicht mehr als zehn Dokumente, die alle entweder fachspezifische Abhandlungen oder Patente waren. Diese geringe Zahl von Veröffentlichungen, die für eine ausgewählte Leserschaft in dem betreffenden Fachgebiet gedacht waren, war an sich keine tragfähige Grundlage für die Behauptung, es liege ein Vorurteil vor (s. auch T 25/09).
In T 179/18 erachtete die Kammer die drei Jahre, die zwischen dem Anmeldetag des Streitpatents und dem Anmeldetag des nächstliegenden Stands der Technik lagen, nicht für einen langen, von einem technischen Vorurteil zeugenden Zeitraum.
In T 1212/01 bezog sich das Patent auf Pyrazolopyrimidine zur Behandlung von Impotenz (Viagra). Der Patentinhaber verwies auf rund dreißig wissenschaftliche Aufsätze, um zu belegen, dass ein technisches Vorurteil dahin gehend bestehe, dass blutdrucksenkende Medikamente Impotenz verursachen und kein Mittel zu deren Behandlung darstellen. Die Beschwerdekammer vertrat hingegen die Auffassung, dass man vom Inhalt einer solchen Auswahl aus dem Stand der Technik nicht per se darauf schließen könne, dass hiermit ein technisches Vorurteil gegen die orale Behandlung der erektilen Dysfunktion beim Mann ins Leben gerufen werde. Ein solches Vorurteil könne nur anhand des Nachweises festgestellt werden, dass in Bezug auf die technische Lösung in den betreffenden Fachkreisen vor dem Prioritätstag des Streitpatents ein relativ weit verbreiteter Fehler oder eine falsche Vorstellung im Hinblick auf die technische Erfindung bestand. Im vorliegenden Fall treffe dies nicht zu.
In T 550/97 hatte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) vorgetragen, dass zur Integration von unterschiedlichen Mobilfunknetzen noch Jahre nach der Erfindung technisch rückschrittliche Lösungen zum Patent angemeldet und auf den Markt gebracht worden seien. Die Beschwerdekammer wertete solche späteren, möglicherweise in der Tat rückschrittlichen Lösungen jedoch nicht als Indiz für erfinderische Tätigkeit, da kein Grund vorliege anzunehmen, dass diese späteren Entwicklungen auf ein technisches Vorurteil in der Fachwelt zurückzuführen seien, das von der Erfindung hätte überwunden werden müssen.
In T 347/92 wies die Kammer darauf hin, dass das Auffinden eines relativ kleinen Ausschnitts in einem Bereich, der nach der Lehre der neuesten Veröffentlichungen als unzugänglich galt, nicht als für den Fachmann naheliegend betrachtet werden könne.
In T 984/15 befand die Kammer, dass die Tatsache, dass in einer technischen Spezifikation etwas nicht ausdrücklich offenbart oder gar ausdrücklich untersagt wird, nicht zwangsläufig als "Vorurteil in der Fachwelt" verstanden werden darf. Dies könnte auch andere, nicht technische Gründe haben, wie z. B. die Umgehung einer patentierten Technologie oder ganz einfach die Tatsache, dass die Verfasser in ihren Beratungen eine ansonsten zweckmäßige technische Option aus Zeitmangel nicht erörtert und deswegen verworfen oder ignoriert haben.
Ein dem "Vorurteil in der Fachwelt" ähnliches Beweisanzeichen ist die Entwicklung der Technik in eine andere Richtung (s. dazu T 24/81, ABl. 1983, 133; T 650/90; T 330/92).
In T 883/03 stellte die Kammer fest, dass die Lehre, die zum kennzeichnenden Merkmal des Anspruchs 1 hätte führen können, bereits über eine lange Zeit im Stand der Technik enthalten war. Trotzdem sei die Fachwelt in dieser langen Zeit gegenüber dieser Kenntnis "blind" gewesen. Dies stelle im konkreten Fall ein weiteres Indiz für die erfinderische Tätigkeit der im Anspruch 1 vorgeschlagenen Lösung dar.
In T 872/98 wies die Beschwerdekammer darauf hin, dass für das Vorliegen eines Beweisanzeichens auch die Tatsache sprechen könne, dass ein Wettbewerber kurz nach dem Prioritätstag eine Patentanmeldung beim Deutschen Patentamt eingereicht habe, deren Erfindung in eine völlig andere Richtung gehe als die europäische Patentanmeldung.
In T 779/02 wies die Kammer darauf hin, dass das Vorliegen eines Vorurteils durch einen langen Zeitraum (hier mehr als 16 Jahre) zwischen dem nächstliegenden Stand der Technik und der Erfindung bewiesen werden kann, wobei in dem Zeitraum nur Lösungen verfolgt wurden, die in andere Richtungen wiesen als die Erfindung, und erst danach die durch die Erfindung bereitgestellte Lösung die Akzeptanz der Fachwelt erlangt hat.